Bonnie Nadzam – Mr. Lamb (Buch)


Bonnie Nadzam - Mr. Lamb (Buch) Cover © dtv premiumDie zwei Protagonisten ahnen noch nicht, dass sie selbige sein werden: Da wäre David Lamb, ein vierundfünfzigjähriger wohlhabender Mann, von seiner Frau Cathy verlassen, einsam und ausgelaugt. Aufopferungsvoll kümmert er sich um seinen alten, miesepetrigen, des Lebens müde gewordenen Vater, bis der dahinscheidet – nach dessen Beerdigung findet Lamb sich ein wenig später auf einem Parkplatz in einem unschönen Wohngebiet wieder, nicht wissend, was er als nächstes tun soll.

Und da wäre Tommie, ein elfjähriges, leidlich hübsches, falsche Wimpern tragendes Mädchen in lotterig aussehender Kleidung, die in eher bescheidenen Umständen bei ihrer desinteressierten Mutter und deren seltsamem Freund lebt . Sie wird von einer ihrer älteren, sie ständig schikanierenden Teenie-“Freundinnen” zu Lamb vorgeschickt, um bei ihm Zigaretten zu schnorren – eine Mutprobe, die sie bestehen soll.

Als merkten sie beide, Tommie und Lamb, dass sie sich momentan irgendwo im Nirgendwo befinden, am Ort Wohin mit Fragezeichen, schlägt Lamb Tommie ein Fake-Kidnapping vor, um den halbstarken Schnepfen da vorne mal einen gehörigen Schrecken einzujagen. Wider Erwarten geht das Mädchen darauf ein, und so schiebt Lamb die Kleine vorgeblich unsanft in sein Auto und fährt davon – um sie, ohne ihr etwas anzutun, etwas später wieder nach Hause zu fahren. Doch wie es der Zufall will, treffen die beiden wieder aufeinander. Lamb möchte Tommie die Erhabenheit, die Macht und die Schönheit der Rocky Mountains zeigen und glaubt fest daran, dass er dem Mädchen so eine andere Einstellung zum Leben vermitteln, ja, ihr gar eine andere Vorstellung vom Leben nahebringen könne und dieser Trip für beide  eine kathartische Wirkung und eine Neustart mit sich zöge. Obgleich ihr Lamb nicht so wirklich geheuer ist und ihr zuweilen Gefühle der Skepsis und unterschwellige Angst in den Knochen liegen, lässt Tommie sich überreden, da sie sich dennoch zu ihm hingezogen fühlt und seine Zuwendung und Fürsorge genießt.

Immer wieder von anonymen, fast schon hypothetisch formulierten Passagen unterbrochen, die eine beinahe gruselige Distanz in sich bergen (»Stellen wir uns vor…«), wird der Leser in diesem kapitellosen Roman auf einen in der dritten Person erzählten Roadtrip plus Verweilphasen mitgenommen und somit Zeuge des sonderbaren Verhältnisses zwischen Tommie und Lamb. Tommie, das fast teilnahmslos erscheinende Mädchen ohne seelisches Zuhause, das eigentlich gerne Tochter wäre. Lamb, die liebevoll die Kontrolle behalten wollende väterliche Figur.

Permanent fühlt man sich dem unguten, schizophren anmutenden Gefühl ausgesetzt, dass die Situation zwischen den beiden jederzeit außer Kontrolle geraten könnte oder vielleicht schon von Anfang an außer Kontrolle geraten ist, denn Lamb formt das Mädchen mit seiner fürsorglichen, aber stets manipulativen Art. Fragt es ständig, ob es wirklich noch länger von zu Hause fortbleiben wolle. Ob dies in Ordnung sei. Ob jenes in Ordnung sei. Fragt unaufhörlich, immer nach Bestätigung heischend, immer Tommie in Zugzwang bringend (»…, oder?«; »So ist es doch, siehst du das nicht?«; »Hab ich recht?«), und das bringt Tommie mehrmals an ihre Grenzen. Die Fürsorge Lambs tut ihr einerseits zwar gut, doch andererseits lässt sie sie abhängig werden, sie fühlt sich erdrückt, so sehr, bis ihr die Tränen kommen. Achselzucken ist ihre häufigste Reaktion auf die Fragen und spiegeltden inneren Zwiespalt und die Unsicherheit des zarten, noch formbaren Geschöpfs wider.

Man ist sich als Leser nie gewiss, wie weit Lamb mit seiner Fürsorge geht, da bestimmte Dinge nur angedeutet werden: Er gibt ihr nach einiger verstrichener Zeit väterliche Küsse auf den Mund, und als sie krank ist, wäscht er sie und fragt sie, ob er sich zu ihr ins Bett legen dürfe – stets höflich aber manipulativ fragend. Er fasst sie an, sie lässt es zu. Ist er ein einsamer Mensch, der nun endlich Vater sein darf und dies in aller Konsequenz lebt – und dabei einiges nachzuholen hat, ohne zu merken, dass er es zu gut meint? Oder macht er das Mädchen bewusst von sich abhängig und bringt ihr Schritt für Schritt bei, dass sexuelle Handlungen zwischen ihm und ihr (wenn sie denn überhaupt stattfinden, man erfährt es ja nie…) etwas völlig Normales sind? Ist Lamb Übervater oder pädophil? Manövriert er das Mädchen gen Stockholm-Syndrom und fügt ihr somit tiefe seelische Narben unter vorgeblich positivem Aufhänger zu?

Diese Spannung und Ungewissheit ist wohl auch die Intention der Autorin, die einen sehr rohen, aber wunderbar vereinnahmenden und schönen Schreibstil hegt, und gerade das In-der-Luft-Hängen, der Psychothrill des Ganzen als Hauptelement, ist gleichermaßen faszinierend wie abstoßend und schmerzt beinahe körperlich. Die Stärke des Buches ist gleichzeitig seine Schwäche – denn so spannend es ist, zu erfahren, was für ein Verhältnis zwischen dem sehr jungen Mädchen und dem Mann in den Mittfünfzigern nun existiert, so grausam und negative Gefühle heraufbeschwörend ist es auch.

Es gibt Momente, in denen denkt man sich: Nein, der Mann möchte nichts von diesem Mädchen – er trauert ja noch immer der Beziehung zu Cathy hinterher. Er traf und trifft sich mit einer Frau namens Linnie, um mit ihr zu schlafen – als Extra-Kick lügt er jener Frau vor, er sei noch verheiratet. Man denkt sich: Nein, er will einfach nur ein guter Ersatzvater sein, der es schlichtweg übertreibt. Und dann gibt es wieder diese Momente, in denen man sich denkt: Was tut er dem Mädchen da eigentlich an? Wäscht er sie wirklich nur? Lässt sie sich gern lenken oder fügt sie sich – in welcher Form auch immer – aus Angst? Die vielen Flashbacks, die Lamb ereilen, die Dinge von früher, die er Tommie erzählt, bergen zwar erklärerisches Potenzial in sich, doch auch sie sind letztendlich bestenfalls vage Andeutungen. Ebenso verstört die unterschwellige Wut in Lamb, gemischt mit Hilflosigkeit, Altruismus und Egoismus:

„Seine Gedanken schwankten hin und her, zwischen Mitleid für das Mädchen und dem Wunsch, sie zu zerdrücken, zu zermalmen, zu ihrem eigenen Guten. Denn er wusste genau, wie ihr Leben aussehen würde, wenn er sie wieder nach Hause brachte, und es war ein trostloses und schreckliches Geheimnis, das er und die ganze Welt vor ihr verborgen hielten, und dass er es vor ihr verborgen hielt, war das Schlimmste überhaupt, weil sein Auftauchen in ihrem Leben – diese plötzlich entstandene und ungewöhnliche Freundschaft – möglicherweise der einzige Lichtblick war, die einzige Abweichung von einem ansonsten vorbestimmten Lebensweg.“
(S. 52)

Auch verstörend ist, dass Lamb sich statt als David dem Mädchen gegenüber als Gary ausgibt und sie mit zunehmender Zeit immer häufiger Emily oder Em nennt und sie gegenüber Fremden und Bekannten auch als solche ausgibt.

Gerade für Leser(innen), die in ihrem Leben traumatische Erfahrungen mit sehr manipulativen Menschen erleben oder erlebt haben, gerade jene, die Opfer sexuellen Missbrauchs – in welchem Maße auch immer – waren oder gar sind, könnte dieses Buch überhaupt nicht gut tun, denn die psychologische Tiefe des Nadzam-Debüts und dessen fürwahr schöne Verbalverpackung mit all den Natureindrücken und den Vermittlungen der lebenswerten Dinge könnte einerseits zwar durchaus einen Aufwachmoment hervorrufen, andererseits längst Verdrängtes und Abgeschlossenes wieder hochkochen lassen – alles basierend auf einem höchst spekulativen Gefühl.

Und so bleibt auch beim Rezensenten ein innerer Zwiespalt. Zwischen Abscheu und Faszination. Zwischen Neugier und Erschütterung. Zwischen Bewunderung hinsichtlich des Schreibtalents der Autorin und der inhaltlich eher furchtbaren schwebenden Situation. “Mr. Lamb” ist wie ein überdimensionales scharfes Messer – es kann spalten und furchtbar schmerzen. Es kann einen Schnitt setzen. Es ist ein Werkzeug, mit dem der Benutzer umzugehen lernen muss. Und es ist ein Werkzeug, das man manchen nicht in die Hand geben sollte.

Cover © dtv premium

Wertung: 9/15 dpt


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