Mikael Niemi – Die Flutwelle (Buch)


Mikael Niemi - Die FlutwelleDer deutsche Buchtitel des im schwedischen Original “Fallvatten” benannten neuen Romans des Schriftstellers mag so manch Mikael-Niemi-Unkundigen in die Irre führen, klingt er in seiner reißerischen Art doch eher wie ein schlechter RTL-/Sat.1-Film aus Eigenproduktion, mit Heiner Lauterbach, Veronica Ferres, Heino Ferch, Hannes Jaenicke und Alexandra Neldel in den Hauptrollen. Doch zwischen den Buchdeckeln findet sich intensive Wortbildmalerei, sprachlich direkt und dennoch gleichermaßen ausladend wie detailreich, so wie man es vom schwedischen Autor, der den Bestseller “Populärmusik aus Vittula” sowie “Erschieß die Apfelsine”, “Das Loch in der Schwarte” und “Der Mann, der wie ein Lachs starb” schrieb, bestens kennt. Und doch ist “Die Flutwelle” so ganz anders.

In seinem neuesten Werk wirft Niemi seine Leser sprichwörtlich ins kalte Wasser, denn in diesem Buch zeichnet er ein Was-wäre-wenn-Szenario der extremen Art: Im Norden Schwedens regnet es unaufhörlich. Ein jeder ist sich sicher, dass der Staudamm des Lule älv auch immensen Wassermassen standhalten kann und wird. Doch als sich die ersten Risse bemerkbar machen, wird langsam klar, dass der riesige Damm brechen wird. Was auch geschieht: Wie ein Tsunami ereilen die riesigen Wassermassen das Land, und die Katastrophe steht nicht etwa vor der Tür – sie ist bereits über die Schwelle getreten.

So ahnt die Malgruppe um Lena Sundh noch nicht, was sich gleich ereignen wird. Lena amüsiert sich über ihre weiblichen Gruppenkameradinnen, wie sie den selbstverliebten Adonis Laban anschmachten, sie verachtet sie, und im Grunde belächelt sie auch diesen Beau. Nein, sie entwickelt regelrechten Hass auf ihn. Noch ist sie sich nicht gewahr dessen, dass sie und er um ihr Leben kämpfen werden. Adolf Pavval hingegen, der in seinem Lieblingsspielzeug, seinem Saab sitzt, fährt direkt auf die Katastrophe zu, während die Verkäuferin Sofia Pellebro nach anfänglichen Zweifeln begreift, dass da draußen vor der Ladentür etwas nicht stimmt – und sie instinktiv den Weg zu ihrer kranken Tochter sucht. Helikopterpilot Vincent Laurin ist des Lebens schon längst müde und will seinen finalen Blechlibellenflug  fliegen, direkt in den Tod – zu dem Zeitpunkt weiß er noch nicht, was sich gleich ereignen wird – und dass seine schwangere Tochter Lovisa auch sehr bald in Lebensgefahr gerät. Sie versucht ihn und ihre Mutter Henny (die mittlerweile mit ihrem neuen Kerl, Einar, zusammenlebt) zu erreichen.

Auch Barney Lundmark, der zusammen mit seinen zwei Ingenieurinnen beim dortigen Stauwerk arbeitet, wird alsbald überrascht. Seine Triebhaftigkeit und seine sadistische Ader ließ er gerne bei den beiden Frauen aus, und die flutbedingte Stresssituation versucht er einerseits zu bewältigen, doch gleichermaßen tun sich in ihm widerliche Abgründe auf, sodass man sich als Leser wünscht, bald knickten die Wassermassen einen Baum um, von welchem ein starker Ast diesen Unmenschen durchbohrt und mit in die Flut reißt. Gunnar Larsson wiederum möchte wenigstens ein paar Stunden ohne seine demente, wahnsinnig gewordene, ihn stets drangsalierende Frau verbringen und will sich mit einem Freund zum gemütlichen Angeln verabreden, ohne zu wissen, was gleich passieren wird.

Ein “katastrophales” Buch …

Im Grunde ist man als Leser der stille Beobachter, der dem Geschehen in katastrophenfilmreifer Manier beiwohnen darf – praktisch über die komplette Distanz des Buches wird man, mit harten Schnitten von Kapitel zu Kapitel, mit den Situationen der einzelnen Protagonisten konfrontiert, begleitet sie jedoch nicht nur beim Kampf um ihr Leben (und gegebenenfalls um das Leben ihrer liebsten Mitmenschen), sondern macht es sich auch in einem Winkel derer Köpfe bequem – man bekommt ihre Gedankengänge, ihre Zweifel, ihre Hoffnungen präsentiert, man lernt die Menschen Stück für Stück besser kennen, zumal sie ihr Leben auch reflektieren… man entwickelt Sym- und Antipathien.

Bis zum abschließenden Kapitel herrscht Ungewissheit, welche dieser Menschen überleben mögen, und Niemi weiß diese Unberechenbarkeit der Natur perfekt in Worte zu fassen – die Worte sind oftmals gewichtig und gewaltig wie der reißende Strom -, und lässt seine Figuren so unabsehbar leiden, überleben oder sterben, dass man nie weiß, ob die jeweiligen Protagonisten (denen jeweils eigene Kapitel gewidmet sind) das nächste Kapitel noch erleben werden. So erwischt man sich immer wieder dabei, wie man die Luft anhält, mitfriert, selbst Unruhe verspürt und gar solidarisch den Schmerz mitfühlt.

… im positiven Sinn

Niemis Erzählweise würde problemlos für einen Hollywoodfilm genügen, trotz aller Dramatik und trotz der heftigen Bilder allerdings nie in einer übertriebenen Form, sondern schlichtweg echt, realistisch und ungeschönt, ungeschnitten und in cineastischer Form garantiert FSK 18 – inklusive viel Blut und abgetrennter Gliedmaßen. Ohne Effekthascherei, sondern so, wie es ist. Sein könnte. Ungefiltert, schmutzig und hässlich. Erbarmungslos.

Und unweigerlich stellt man sich die Frage, wie sie auch auf der Buchrückseite prangt: “Wie würden Sie sich verhalten im Angesicht einer Katastrophe?” – Eine gute Frage. Eine, die auch noch Tage später beim Gedanken an “Die Flutwelle” im Kopf festsitzt.

Sollte der Autor sich jemals gesagt haben, er versuche sich an einem Katastrophenroman, so kann man ihm attestieren: Der Versuch ist brillant gelungen.

Cover © btb

  • Autor: Mikael Niemi
  • Titel: Die Flutwelle
  • Originaltitel: Fallvatten
  • Übersetzer: Christel Hildebrandt
  • Verlag: btb
  • Erschienen: 29.04.2014
  • Einband: Gebunden mit Schutzumschlag
  • Seiten: 320
  • ISBN: 978-3-442-75401-4
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite beim Verlag
    Erwerbsmöglichkeiten

Wertung: 12/15 dpt


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