Martin Mittelmeier – DADA. Eine Jahrhundertgeschichte (Buch)


Cover © Siedler Verlag MünchenManchmal kann man das Gefühl bekommen, nicht im 21. Jahrhundert zu leben. Vor zwei Jahren wurde der hundert Jahre zurückliegende Erste Weltkrieg in jeder zweiten Zeitungsbeilage analysiert und erzählt; jetzt, weniger omnipräsent, aber in der Literatur nicht unbedeutender: Es wird hundertjähriges DADA-Jubiläum gefeiert, mit zahlreichen Publikationen, Neuausgaben und Re-Inszenierungen. An und für sich ist das erfreulich, denn die Öffentlichkeitsstrategien von DADA lassen sich bis in die viralsten Jung von Matt-Werbefilmchen verfolgen – andererseits ist Friedrich Liechtenstein nicht Hugo Ball, DADA ziemlich lange her und nicht darauf ausgelegt, in einem kapitalistischen System Gewinn zu produzieren; kurz, die Techniken sind vergleichbar, die Ideen und Personen kaum. Mit Martin Mittelmeiers DADA. Eine Jahrhundertgeschichte liegt ein Buch vor, das wie für diese Ausgangssituation gemacht scheint; leicht lesbar und informativ, im Untertitel die Bedeutung von DADA etwas aufbauschend. Ein nicht unbeträchtliches Problem ist jedoch, dass dort die Personen im Vordergrund stehen, nicht ihre literarischen und politischen Praktiken. Das ist nicht nur theoretisch heikel, sondern mindert in Anbetracht der dynamischen Vielseitigkeit von DADA gelegentlich die Lesbarkeit.

Von welchem Blickwinkel auch immer man auf DADA schaut, ergibt sich ein neues Bild, sodass nur schwerlich festgelegt und definiert werden kann, was unter dem Wort gefasst wird. Das Wort DADA übernimmt die bizarre Rolle, einerseits als vollkommen bedeutungslos und ohne jegliche Referenz zu gelten, andererseits alles zu bedeuten und jeden zu umfassen. Wenn man DADA begreifen will, ist es schon schwierig, die Personen festzustellen, die an Gründung und Ausarbeitung des – je nach Sichtweise – Genres, der Bewegung, der Gruppierung, der Kunstrichtung oder den politischen Aktionsformen beteiligt waren. Dabei haben die Akteure nicht selten Mitgründer*innen frei erfunden, echte Gründer*innen verneint und überhaupt ziemlich viel Quatsch gemacht. Mittelmeier hat die permanente Ausuferung und Übertreibung von DADA auf gut 270 Seiten gebannt, die am Ende das Gefühl vermitteln, DADA verstanden zu haben.

Das ist zwar sehr schön und macht Spaß, ist aber nicht ganz unproblematisch. Mittelmeier erzählt diese Geschichte trotz unterbrechenden, experimentell anmutenden Intermezzi letztlich konservativ chronologisch. Unter dem Schlagwort “Simultanität” wird die Chronologie an einigen Punkten stillgestellt, um die Gleichzeitigkeit verschiedener Aktionen beobachtbar zu machen; dem ist nicht immer leicht zu folgen, führt aber eine angenehme Komplexität in die Erzählung ein. DADA beginnt als junge Bewegung in Zürich 1916, wird durch Hugo Balls Ausscheiden unterbrochen und läuft im Berlin und Paris der auslaufenden zwanziger Jahre aus; das Buch endet mit den Todesdaten der Protagonisten. Das sind zwei Entscheidungen des Autors, über die man sich vor dem Kauf des Buches bewusst sein sollte: Die Chronologie und die Hauptprotagonisten stehen im Vordergrund.

In Anbetracht der Größe des Personenarsenals, die mit DADA assoziiert werden können, führt diese Reduktion nicht unbedingt zu Vereinfachung. Sucht man aber gerade keine Feierabendlektüre und findet es schön, über große Persönlichkeiten unterrichtet zu werden, kann DADA. Eine Jahrhundertgeschichte zu gefallen wissen. Doch gerade das, was für Diskurstheoretiker*innen spannend wäre: Strategien der Autorinszenierung, der Kollektivierung (und Zerstreuung), der Transnationalität und Deterritorialisierung, der Kritik an verschiedenen Formen der Macht – das wird zwar angeschnitten, aber nicht unter die Lupe genommen. Der Schwerpunkt liegt woanders. Das ist schade, weil ein genauer Blick auf die Primärliteratur unter den Tisch fällt (so findet etwa die einflussreihe Reihe “Die Silbergäule” des Verlages Paul Steegemann keine Erwähnung), lässt sich aber im Doppelkauf mit dem DADA-Almanach, der an dieser Stelle ebenfalls demnächst rezensiert wird, ausgleichen.

Es ist dann natürlich die Frage, ob man für eine Einführung in den Dadaismus 23€ für Mittelmeiers Jahrhundertgeschichte und 40€ für den (drucktechnisch durchaus ansprechenden) Almanach ausgeben möchte. Ansonsten folgt Mittelmeier elegant Jack Kerouacs Diktum: „Keine Zeit für Lyrik, aber immer genau Bescheid wissen.“ Wer das in Ordnung findet, wird gut bedient.

Cover © Siedler Verlag München

Wertung: 7/15 dpt

  • Autor: Martin Mittelmeier
  • Titel: DADA. Eine Jahrhundertgeschichte.
  • Verlag: Siedler Verlag München
  • Erschienen: JJJJ oder MM/JJJJ
  • Einband: Hardcover mit Umschlag
  • Seiten: 272
  • ISBN: 978-3-8275-0070-0
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite
    Erwerbsmöglichkeiten

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