Donald Ray Pollock – Die himmlische Tafel (Buch)


pollock_die-himmlische-tafel_cover (c) Verlagsbuchhandlung Liebeskind_webCane, Cob und Chimney Jewett, vom fanatischen Vater Pearl nach Gehstock, Maiskolben und Ofenrohr benannt, sind im Bodensatz der Gesellschaft aufgewachsen und als Wanderarbeiter irgendwo zwischen Alabama und Georgia gestrandet, wo der ausgemergelte Vater an einem Infarkt stirbt. Auf der anderen Seite der Staaten, in Ohio, versuchen Ellsworth und Eula Fiddler ein ehrliches Leben zu führen – als ihr Sohn Eddie kurz vor der Herbsternte verschwindet, steht auch dieser Versuch auf der Kippe. Es überrascht nicht, dass sich diese Geschichten kreuzen werden – entfernte Erzählstränge schneiden sich schon in den ersten zwei Werken Donald Ray Pollocks. Neu ist allerdings die Breite der erzählerischen Komposition. Das gesellschaftliche Panorama, das er in Die himmlische Tafel entwirft, ist detaillierter, größer und länger als die ersten Erzählbände Knockemstiff und Das Handwerk des Teufels. Eins bleibt gleich: Das Elend der Unterschicht in den Vereinigten Staaten, hier im Jahr 1917, wird auf einzigartig trockene und bittere Weise erzählt.

Die himmlische Tafel brilliert vor allem mit einer Charakterzeichnung, die noch die randständigsten Charaktere der Geschichte mit einem Hintergrund, oder besser: einer Seele ausstattet (und sei sie noch so dunkel). Und das will etwas heißen, wenn auf gut vierhundert Seiten die Figurenanzahl fast in den dreistelligen Bereich geht, wobei mehr als fünfzig Figuren mit Namen versehen sind. Dass man hier den Überblick behalten kann, ohne ein geniales Gedächtnis zu haben, liegt am effizienten Stil Pollocks: Waren die Spitzen der Gewalt etwa in Knockemstiff immer auch poetische Höhepunkte, enthält sich Die himmlische Tafel jeglicher Stilblüten und Abschweifungen. Daher wirkt die auch hier wieder extreme Gewalt zwar gelegentlich willkürlich, öffnet aber auch Raum für die Ausarbeitung der Charaktere. Es ist denn auch dieses Ungleichgewicht zwischen fehlender Erklärung der Handlung und buntgefächterter Figurenzeichnung, die fesselt: Man fühlt mit, weil nichts vorgekaut wird. Pollock kennt seinen Hiob – und macht ihn zum Teil der eigenen Familie.

Bezeichnend etwa ist die titelgebende himmlische Tafel, von der Pearl Jewett schwärmt, während seine Söhne und er sich seit Wochen von nichts anderem ernähren als einer Handvoll Mehl, Wasser, ranzigem Öl, einem geschlachteten kranken Schwein und schimmeligen Kartoffeln. Pollock erzählt, dass Pearl in seiner Jugend ein Säufer und Draufgänger gewesen ist, nach der Heirat allerdings abstinent wurde (einzige Ausnahme: die Geburt seiner Söhne, womit Pollock auch die nur scheinbar debile Namensgebung erklärt). Seine Frau Lucille erkrankt jedoch und Pearl verkauft alles Hab und Gut, um Quacksalber zu bezahlen, die Lucille letztlich doch nicht helfen. Daher mit seinen Söhnen obdachlos und auf Wanderschaft begegnet er einem mystischen Eremiten, der sich von nichts als den Würmern in seinem Bart ernährt, die ihm ein weißer, unsterblicher Vogel in den Mund legt. Er predigt Pearl ein Leben in Demut und Dankbarkeit für die Armut; Gott würde die Geschundenen im Himmel mit einer himmlischen Tafel entlohnen. Trotz seiner Gottergebenheit wird Pearl in einer Mischung aus Verzweiflung und Unterernährung wahnsinnig, bis er bei Durchfall an einem Herzinfarkt stirbt und seine Söhne fortan nicht mehr nach der christlichen himmlischen Tafel suchen. Deren Zukunftsplanung wird nun statt von der Bibel, von einem Groschenroman geleitet: dem Buch Bloody Bill Bucket, das sich um einen Bankräuber dreht.

Es gehört zu den erzählerischen Merkwürdigkeiten, dass die Banküberfälle von Cane, Cub und Chimney nicht ausformuliert werden – anscheinend gehört das in den Groschenroman, nicht in den Gesellschaftsroman Pollocks.1 Wechselt sich auf den beginnenden Seiten noch die Geschichte der Jewetts mit denen der Ellsworths ab, treten während der Überfälle andere Protagonisten in den Vordergrund: Etwa Lieutenant Bovard, ein schwuler Altphilologe, der seinen Tod im ersten Weltkrieg sucht oder der Sanitärinspektor Jasper Cone, einem tragischen Charakter, der in historischer Perspektive sicherlich die wichtigste Rolle innehat, da er die Verbreitung der Wasserspülung für Toiletten vorantreibt und damit Metropolen (ohne Seuchengefahr) erst ermöglicht. Auch nach den Banküberfällen führt Pollock noch neue Protagonisten ein und lässt andere teils ohne Anmerkung verschwinden. Mit Sugar, bürgerlich George Milford, tritt auch ein Schwarzer als Protagonist auf, der das Elend auf ein ganz neues Level bringt, ohne auch nur eine Spur Mitleid zu erregen. Frauen als Protagonistinnen sucht man vergebens – dass der einzige schwarze Protagonist kein Sympath ist und Frauen entweder früh sterben oder sich an einen Mann verkaufen und damit zu Nebenpersonen werden, ist allerdings eine dargestellte Ungerechtigkeit, keine erzählerische. Pollock erzählt viel Schmerz.

Erzählerisch geht der Roman in Richtung elliptischer und faktisch akkurater Serien wie True Detective oder The Wire, motivisch wird man an einigen Ecken und Enden an die Düsternis eines Jim Thompson erinnert, die Leere eines Ernest Hemingway, aber auch die groteske Mischung aus Horror und Erlösung, die man bei Joe Lansdale finden kann. Dass man hier nicht weiter auf die Sprache eingehen muss, ist der wundervoll unaufdringlichen Übersetzung Peter Torbergs zu verdanken, der Pollocks Mundarten nicht in Dialekte des Deutschen übersetzt, sondern durch Nuancierungen des Standarddeutschen und treffsichere Anglizismen Rückschlüsse auf die Sprachlichkeit zulässt, ohne von der Geschichte abzulenken. So können nach wie vor die zahlreichen biblischen Anspielungen angedeutet werden: Zum Beispiel denkt Cane (Kain!) des Öfteren darüber nach, seinen Bruder Chimney zu töten – und hätte auch alles Recht dazu. Oder Cob (‚Cob‘ ist die Kurzform von Jakob), hängt sich an seinen Bruder Cane, wie auch Jakob an seinen Bruder Esau im Ersten Buch Mose.

Man merkt schnell, dass das Buch als Geschichte normaler Menschen auftritt, aber nach wenigen Seiten sehr komplex wird. Dass der Lesefluss dennoch zu keinem Zeitpunkt abbricht und der Spannungsbogen elegant ausgefeilt wird, stellt ein Meisterstück dar. Obwohl es großartig ist, der Entwicklung dieses Autors zu folgen, merkt man dem Buch dennoch kleinere logische Schwächen an. So mag das unvermittelte Ende des Buches einerseits als willkürlich gelesen werden – andererseits sind willkürliche Geschehnisse auch genau das, wovor Pollock nicht zurückschreckt, um – die oft ebenso unerklärliche – Realität darzustellen. Der einzige, kleine Wermutstropfen ist, dass das Buch zwar wieder einmal sehr schön und liebevoll von der Verlagsbuchhandlung Liebeskind gestaltet wurde, aber leider auch historisch inkorrekt ist: So benutzen die Herren auf dem Cover eine Thompson-Maschinenpistole, die 1917 noch in der Entwicklungsphase befindlich war und erst ab 1921 produziert wurde. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Die himmlische Tafel ihren Weg auf viele Nachttische finden sollte – auch, wenn es Vielen den Schlaf rauben wird.

  • Autor: Donald Ray Pollock
  • Titel: Die himmlische Tafel
  • Originaltitel: The Heavenly Table.
  • Übersetzer: Peter Torberg
  • Verlag: Verlagsbuchhandlung Liebeskind
  • Erschienen: 07/2016
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 434
  • ISBN: 978-3-95438-065-7
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite
    Erwerbsmöglichkeiten

Wertung: 14/15 dpt


  1. Was übrigens ziemlich weit von Quentin Tarantinos Film “Reservoir Dogs” entfernt ist, der zwar ebenfalls von einem Banküberfall handelt, der nicht gezeigt wird, sonst aber rein gar nichts mit den gefühlvollen Darstellungen gesellschaftlicher Brutalität Pollocks zu tun hat. []
1 Kommentar
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