Michael Weins – Goldener Reiter (Buch)


Michael Weins - Goldener Reiter (Buch) Cover © mairisch VerlagPsychische Krankheit ist, obgleich sie immer häufiger aufzutreten und ein immer selbstverständlicherer Teil unserer Gesellschaft zu werden scheint, noch immer ein Tabuthema. Jemand kennt jemanden, der von jemandem gehört hat, dass jemandes Bruder mal in der Psychiatrie war oder einen Therapeuten besucht hat. Es ist faszinierend, wenn der menschliche Geist Risse zeigt, wenn der Mensch, im wahrsten Sinne des Wortes “den Geist aufgibt”. Doch etwas damit zu tun haben immer die anderen.

Michael Weins, selbst studierter Psychologe, erzählt in seinem Roman ‘Goldener Reiter’ nicht nur von psychischer Krankheit, sondern auch vom Zusammenbruch elterlicher Instanz und mütterlichen Halts aufgrund einer seelischen Erkrankung. Eines Tages beginnt Jonas’ Mutter sich eigenartig zu benehmen. Dinge zu tun, die sie zuvor nie getan hat. Sie führt Selbstgespräche, kichert vor sich hin und wirkt geistesabwesend. Sie wird ihrem Sohn zusehends fremd und – was vermutlich noch viel schlimmer ist – sie wird ihm peinlich. Dorothea Fink entwickelt sich zu einer stetig tickenden Zeitbombe für ihren Sohn, der sich verpflichtet fühlt, die fürsorgliche Rolle einzunehmen, die seine Mutter ihm verweigert.

Sie ist stundenlang nachts wach, raucht unzählige Zigaretten, tritt im samtenen Morgenmantel auf die Straße und zerschlägt dort die gerahmten Familienbilder aus dem Flur. Es ist eine haltlose Situation, mit Volldampf in den Abgrund. Michael Weins’ Sprache entfaltet, gerade aufgrund ihrer Kindlichkeit und ihrer stakkatoartigen Gedankenketten, eine ungeheure Kraft. Es ist die Welt einer kranken Mutter, durch die Augen eines Kindes. Jonas weiß nicht, was mit seiner Mutter geschieht, er weiß nicht, dass sie krank ist. Er weiß nur, dass etwas nicht stimmt. Und dass er es irgendwie wieder geradebiegen, dass er auf seine Mutter aufpassen muss.

Schließlich wird Dorothea Fink abgeholt und nach Ochsenzoll gebracht. “Ochsenzoll” steht als Teil von Hamburg quasi synonym für “Irrenanstalt”. Noch heute liegt dort eine psychiatrische Klinik. Jonas ist nun ein Ochsenzoll-Sohn mit seiner Ochsenzoll-Mutter. Da sein Vater früh gestorben ist, zieht er übergangsweise bei seinem Freund Mark ein. Seine Mutter wird indessen im Krankenhaus mit starken Medikamenten behandelt. Manchmal besucht er sie, bringt ihr frische Wäsche vorbei. Sie sieht leer aus und hat eine Stimme, bei der etwas vergessen worden ist.

Michael Weins schreibt im Nachwort, dass es Gründe gegeben habe, diesen vor über zehn Jahren erstmals veröffentlichten Roman nochmal der Öffentlichkeit zu überantworten. Man habe ihn früher gefragt, ob das Buch autobiographisch, ob Michael Weins womöglich Jonas Fink sei. Vor über zehn Jahren habe er gelogen, schreibt Weins. Heute nicht mehr. Seine Mutter litt unter paranoider Schizophrenie, Dorothea Fink ist seine Mutter. Mit den artifiziellen Methoden der Verknappung, mit einer authentischen und tief berührenden Sprache gelingt es Michael Weins, einen Ausdruck für das zu finden, was er als Kind erlebte. Und außer ihm noch tausende andere Kinder.

‘Goldener Reiter’ macht Mut, sich aktiv mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Es ermuntert, psychische Krankheit nicht nur in Gestalt von Manager-Burnout wahrzunehmen, sondern den Blick über den Tellerrand zu wagen. Die Zeiten, in denen seelische Erkrankungen ein Stigma waren, dessen man sich selbst nach Gesundung nicht mehr entledigen konnte, müssen vorbei sein. Insofern kann man Michael Weins und dem mairisch Verlag für die Entscheidung, diesen Roman neu aufzulegen, in höchstem Maße dankbar sein. Ein leises, bewegendes Buch. Ein Roman, dessen Schlichtheit und Authentizität direkt ins Herz treffen.

Cover © mairisch Verlag

Wertung: 14/15 dpt


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