Son of Saul (Spielfilm, DVD/Blu-ray)


Son Of Saul - Cover © Sony Pictures Home EntertainmentVogelgezwitscher. Unscharfes Bild über Sauls Schulter hinweg, dann schwenkt die Kamera auf sein Gesicht und eine neue Gruppe Deportierter  erreicht das Vernichtungslager. Hundegebell. Pfiffe. Rufen. Ächzen. Weinen. Musik auf einem vorbeifahrenden Laster. Ein SS-Mann eilt achtlos vorüber. Saul reißt sich die Mütze vom Kopf – präziser Akt zwischen Bewegung und Erstarren. Im Durchgang zur Gaskammer: Die Kamera blickt reglos in Sauls regloses Gesicht. Menschen laufen vorbei. Fußgetrappel. Rufen. Viehtrieb.

Theodor Adorno schrieb den berühmten Satz: »Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.« Später wurde dieses Diktum (nicht von ihm selbst) erweitert und erreichte notwendigerweise auch den Film. Nun gibt es in dieser Gattung durchaus Werke, die sich mit der größten Barbarei des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen: das Monumentalwerk „Shoah“ von Claude Lanzmann, „Schindlers Liste“ von Spielberg, Polanskis „Der Pianist“. Sie alle mussten sich mit der Frage auseinandersetzen: Können sie vor den Opfern bestehen? Die Kritikerin der FAZ stellte sie auch dem ersten Langfilm von László Nemes und kam zu einem wenig schmeichelhaften Urteil. Warum eigentlich?

Der 1977 in Budapest geborene und zwischen 1989 und 2003 in Paris aufgewachsene Nemes setzt konsequent um, wie die Generation der Enkel*innen und Urenkel*innen von Täter*innen und Opfern die Welt sehen und wie sie gelernt haben, neuere Geschichte – und insbesondere die Shoa – zu erfahren: durch die persönlichen Erinnerungen von Zeitzeug*innen. Die heute so selbstverständliche, hochgradig individuelle Perspektive endet nicht am Verdikt Adornos (und seiner Interpret*innen) und nicht einmal an den Türen der Gaskammern. Wo Menschen sind, existiert sie und so lautet die zentrale Frage des Films nicht, ob er vor den Opfern der Shoa bestehen, sondern, wie deren Erleben und Erleiden filmisch erfahrbar gemacht werden kann.

Saul ist nicht nur die Titelfigur des Films, die neben anderen agiert. Er ist der Dreh- und Angelpunkt. Als Teil eines sogenannten Sonderkommandos gehört er zu jenen bedauernswerten Menschen, die vor ihrem eigenen sicheren Tod die Tötungsmaschine am Laufen halten. Sie sortieren Kleidung, suchen nach Wertgegenständen, begleiten zu Gaskammern oder Erschießungsgräben. Manche schweigend, manche mit ermutigenden Lügen über das künftige Lagerleben – was auf verstörende Art völlig normal wirkt.
Dabei schaut die Kamera Saul entweder ins Gesicht oder über die Schulter. Das ist Auschwitz von unten; ohne Einordnung, ohne Plan. Man fühlt sich ein wenig an Imre Kertész‘ Schicksalslosen erinnert, der beinahe noch ein Kind ist, als er deportiert wird. Auch für Saul hat nichts (mehr) Sinn und Bedeutung, was über seine individuelle Wahrnehmung hinausgeht. Die ist freilich nicht auf das Sehen beschränkt. Das Ohr hat bekanntlich einen anderen Erfassungsradius und so hört man in dem Film viel mehr als man sieht: ununterbrochenes Flüstern (das KZ ist ein zu aller Zeit überfüllter Ort) in unzähligen Sprachen (Jiddisch, Russisch, Polnisch, Deutsch, Ungarisch). Vor allem das babylonische Sprachgewirr zeigt, dass es sich weder bei den unmittelbar Totgeweihten noch bei den Mitgliedern des Sonderkommandos um eine homogene Masse handelt. Diese Menschen sind Fremde unter Fremden.
Saul selbst ist das beste Beispiel für das Versagen aller Mitmenschlichkeit und Solidarität in der aussichtslosen Situation. Als er einen sterbenden Jungen in der Gaskammer entdeckt, setzt er sich in den Kopf, das Kind nicht den Verbrennungsöfen zu überlassen, sondern es nach jüdischen Brauch einschließlich des Kaddischs zu beerdigen. Dafür braucht er einen Rabbiner und ihm ist völlig egal, wer diese Person ist, solange sie ihre Aufgabe erfüllen kann. Auch die Flucht, den Aufstand seiner Mitgefangenen unterstützt Saul nur soweit es seinem eigenen Ziel dient.

„Son of Saul“ verharmlost nichts und er ästhetisiert nichts. Das Bild mag zunächst an der Tür der Gaskammer enden, aber davor muss das Sonderkommando Aufstellung nehmen und den Sterbenden zuhören. Danach betreten die Zuschauer*inner mit Saul den Unort. Dort liegen die Leichen, Blut, Erbrochenes, alles was ein menschlicher Körper preisgibt, bevor er stirbt. Aber nichts davon nimmt Saul in seinem umfassenden Schrecken wahr. Es bleibt – ob aus Abgestumpftheit oder geistigem Selbstschutz – immer nur verschwommenes Randbild. Die Schranken seines Blickfeldes sind gleichzeitig die Wahrnehmungsgrenzen der Zuschauer*innen. Dem Schrecken des Ortes und der Tat geschieht dadurch kein Abbruch. Im Gegenteil. Er bleibt bestehen, selbst als Saul die Flucht aus dem KZ gelingt. Das Flüstern verschwindet, dann der Körper des toten Jungen, zuletzt die Hoffnung – aber die Beklemmung der irren Normalität im völligen Wahn hält die Kamera im Gesicht Géza Röhrigs bis zum letzten Moment fest.
Ihm fehlt von der ersten bis zur letzten Kameraeinstellung beinah jeder Ausdruck. Die Augen blicken stets starr geradeaus, ohne wirklich zu sehen. Spricht er, werden Emotionen, Wut, Flehen in der Intonation nur minimal variiert. Röhrig spielt einen Menschen, den die umfassende Unmenschlichkeit, der er ausgesetzt ist, fast vollständig zu einer leeren Hülle gemacht hat.

„Son of Saul“ ist kein Film über den letzten Funken Menschlichkeit, sondern über das absolut Unmenschliche, das aus Menschen nur noch Stücke macht – aus den Toten und den Lebenden. Gerade dadurch wirkt er gedämpft, nicht übermäßig brutal (obwohl er das zweifellos ist) und auf beklemmende Art ruhig. Wenn man eine Geschichte der Shoa und ihrer Opfer erzählen will, ist „Son of Saul“ vielleicht nicht das maßgebliche Werk. Nemes‘ Film ist viel weniger Erzählung als vielmehr der Versuch, das individuelles Erleben mit den Mitteln und Wahrnehmungsgewohnheiten der Nachgeborenen filmisch umzusetzen. Unter dieser Maßgabe hat Nemes ein – zu Recht oscarprämiertes – maßgebliches Werk geschaffen.

Cover © Sony Pictures Home Entertainment

  • Titel: Son of Saul
  • Originaltitel: Saul Fia
  • Produktionsland und -jahr: Ungarn, 2015
  • Genre:
    Drama
  • Erschienen: 21.07.2016
  • Label: Sony Pictures Home Entertainment
  • Spielzeit:
    103 Minuten auf einer DVD
  • Darsteller:
    Géza Röhrig
    Levente Molnár
    Urs Rechn
  • Regie: László Nemes
  • Drehbuch:
    László Nemes
    Clara Royer
  • Kamera: Mátyás Erdély
  • Schnitt: Matthieu Taponier
  • Musik: László Melis
  • Extras:
    Kommentar von László Nemes, Géza Röhrig und Mátyás Erdély
  • Technische Details (DVD)
    Video:
    4:3 Fullscreen (1.37:1)
    Sprachen/Ton
    :
    U, D, RU, P, Jiddisch
  • FSK: 16
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite
    Erwerbsmöglichkeiten

Wertung: 13/15 dpt


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