Chloe Hooper – Der große Mann (Buch)


Chloe-Hooper-Der-grosse-MannAm 19. November 2004 stirbt der sechsunddreißigjährige Aborigine Cameron Domadgee, indigener Name Mulrunji,  auf der Polizeistation von Palm Island im Regierungsbezirk Queensland. Obwohl er schwerste innerste Verletzungen erlitten hat (die man am ehesten im Zusammenhang mit einem schweren Autocrash vermutet), wird sein Tod als Unfall in Folge eines Sturzes abgehakt. Ein weiterer toter Aborigine auf einer langen Liste, kein Einzelfall.

Der Journalist Max Watts schreibt in diesem Zusammenhang (mäßig übersetzt):

“Vor längerer Zeit habe ich in der Zeitschrift Outrider in Brisbarne (Queensland) schon einmal über dieses Thema geschrieben. Damals hatte ich einen Zeitraum von zehn Jahren untersucht und war auf mehr als 90 derartige Todesfälle gekommen. Nach den Akten hatten die Eingeborenen »Selbstmord begangen« (sich in ihren Zellen erhängt) oder waren, weil sie sich angeblich der Festnahme widersetzt hatten, erschossen worden, oder ihnen war gegen den Kopf getreten worden, oder sie waren einfach gestürzt. Anyway, sie waren gestorben.
Daß sie tot waren, war das einzige, das feststand. Sonst stand gar nichts fest. Kein einziger Polizist, kein einziger Gefängniswärter war je irgendeines ernsthaften Vergehens überführt worden. Keiner, nicht einer, kam je wegen eines dieser mehr als 90 Todesfälle in Haft.” ( Ossietzky 25/2004)

Besonders auf Palm Island würde ein toter Aborigene mehr oder weniger nicht ins Gewicht fallen. Jener Insel, die lange Jahre als Sammelbecken für alles genutzt wurde, was einem, in Eile wachsenden, weißem Australien nicht gut zu Gesicht stand. Aborigines und Mischlinge wurden dort regelrecht eingekesselt, insbesondere solche, die unangepasst, auffällig, krank waren oder  sich Straftaten zuschulden hatten kommen lassen. Menschen aus unterschiedlichen Stämmen, mit unterschiedlichen Lebens- und Verhaltensweisen, die zusammengepfercht in einem Gefängnis, das aussah wie eine Sommerausflugs-Idylle, mit Gewalt gezwungen wurden auf die eigene Stammessprache zu verzichten. Ein hochexplosiver Schmelztiegel mit horrender Kriminalitäts- und Selbstmordrate.   

“1999 erklärte das Guinness Buch der Rekorde die Insel gar zum »gewalttätigsten Ort der Welt außerhalb einer Kriegszone«. Nirgendwo sonst verzeichnen die Statistiken mehr Kriminalität. Ende der neunziger Jahre lag die Mordrate auf Palm Island 15-mal höher als im Rest des Bundesstaates Queensland, die Lebenserwartung bei 40 Jahren, und die Selbstmordrate unter Jugendlichen war die höchste der Welt.” (DIE ZEIT, 16.08.2007 Nr. 34)

Noch 2014 lag die Arbeitslosenrate bei knapp 50%. Palm Island ist einer jener Orte, die gerne aus dem öffentlichen Bewusstsein – und den Medien – gedrängt werden, um ein in Machtzentren erzeugtes Landesbild nicht zu demolieren. Bis so etwas geschieht wie mit Cameron Domadgee. Ein Ereignis, das sich verselbständigt, mit Folgen die aus dem Ruder laufen, bis schließlich die öffentliche Ruhe wiederhergestellt wird.
Polizist auf Palm Island zu sein erfordert starke Nerven und viel Geduld. Beides scheint Chris Hurley zu besitzen, der über zwei Meter große Mann, dem Chloe Hoopers Roman weitgehend seinen Titel verdankt. Der andere Teil gebührt einer mythischen Figur, einem Äquivalent zum hiesigen “Schwarzen Mann”, vor dem man sich fürchten soll (und der keine rassistischen Untertöne verbirgt wie manchmal vermutet wird, sondern schlicht der Teufel aka Herrscher der Dunkelheit ist). Senior Sergeant Hurley scheint Palm Island gewachsen zu sein. Er kümmert sich um die Gemeinde, bevorzugt um deren Kinder und Jugendliche, scheint freundlich zu sein und hart wenn es darauf ankommt. Klar ist, dass Palm Island für den ehrgeizigen Beamten nur ein Sprungbrett ist, quasi durch die Finsternis mitten  ins Licht.  Die Chancen stehen gut.

Bis zu jenem Tag als er, in Begleitung seines indigenen Partners Lloyd Bengaroo, Cameron  Domadgee verhaftet. Der laut Hurley, despektierlich “Who let the Dogs out” gesungen und Bengaroo beleidigt haben soll. Dazu gesellt sich ein vager Verdacht auf Drogenmissbrauch, der sich nicht bestätigen wird.
Sind die Haftgründe bereits zweifelhaft, wird das weitere Geschehen zum Desaster. Denn wenige Stunden später ist Domadgee tot. Laut der Aussage eines weiteren Inhaftierten und lückenhaften Videoaufnahmen, kam es zu einer tödlichen Auseinandersetzung mit Chris Hurley. Hurley und seine Kollegen bestreiten dies, das Untersuchungsergebnis des zuständigen Pathologen,  nach dem Cameron Domadgee an den Folgen eines unglücklichen Sturzes starb, gibt den Polizisten augenscheinlich Recht.  Die fest installierten Revierkameras zeichneten nur den Anfang und das Ende von Cameron Domadgees Todeskampf auf. Interpretierbar in jede Richtung.

Der Fall erlangt Interesse über Palm Island und Queensland hinaus. Nicht nur, dass der bekannte Anwalt Andrew Boe sich seiner annimmt und die Familie Domadgee vertritt, bereits nach der ersten offiziellen Unfall-Erklärung kommt es zu Aufständen auf Palm Island. Die Polizeistation wird zerstört, Hurleys Haus verwüstet und die anwesenden lokalen Polizisten in Angst und Schrecken versetzt. Erst ein Großeinsatz mit Spezialkräften sorgt für Ruhe.

Der Prozess endet, trotz Boes akribischer und engagierter Arbeit, mit einem Freispruch für Chris Hurley. Das Verfahren wird in Frage gestellt, der öffentliche Druck – wie man so schön und ungenau sagt – steigt. Ein zweiter Gerichtsgang wird anberaumt. Das Ergebnis? Verlierer, überall.

Chloe Hoopers namenlose Protagonistin (Alter Ego?) begleitet, beschreibt und bewertet die Geschehnisse seit Andrew Boes Engagement. Eine Schriftstellerin/Journalistin, lange Jahre im Ausland lebend, die sich in australische Interna einarbeiten und –leben muss. Sie spricht mit jedem, der in den Fall involviert ist, versucht jedem Hinweis, jedem Schnipsel nachzugehen, der für die Wahrheitsfindung dienlich ist. Dabei bleibt ihr die Sicht der Polizei, insbesondere der Hauptbeteiligten weitgehend verschlossen. Chris Hurley ist für Hooper ein Phantom,  es wird kein klärendes Gespräch geben, stattdessen bleibt ein Schatten, den weder Chloe Hooper noch ihre Ich-Erzählerin zu durchdringen vermögen.  Verfasst in einer klaren Sprache, die distanziert scheint, aber beständig Empathie, Entsetzen, Fassungslosigkeit, Trauer und Unsicherheit durchschimmern lässt. Gerade wegen letzterem gibt es retardierende Momente, gerade so, als wollten sich Autorin und Erzählerin vergewissern, dass das Geschehene tatsächlich passiert ist.

“Der große Mann” ist ein Tatsachen-Roman, eine hervorragende recherchierte, fundierte Analyse der Geschehnisse soweit es die Faktenlage zulässt. Das reicht nicht bis in die hintersten Winkel, führt dazu, dass “Der große Mann” ein Roman der Verunsicherung ist, der die gelegentliche Hilflosigkeit der Erzählerin, die sich in diversen Doppelungen offenbart, auf den Leser überträgt.  Hooper vermeidet klare Schuldzuweisungen, sie trägt so viel zusammen wie sich recherchieren lässt, entwirft über den Prozess hinaus eine düstere Geschichte von Unterdrückung, Rassismus, kurz Auslöschung, die den Atem stocken lässt. Hier wird eine Gesellschaft, ein Land, ein Kontinent seziert, die sich gerne tolerant und weltoffen geben, hinter deren freundlichem Antlitz aber die Fratze des Eroberers lauert, der Ureinwohner gerne als legitime Beute betrachtet und sie entsprechend behandelt.

Hooper wird nie polemisch oder plump belehrend, sie stellt Fakten dar, interpretiert sie vorsichtig und überlässt dem Leser die Denkarbeit und die Möglichkeit eigene Schlüsse zu ziehen.

Wie vom Verlag gewohnt, ist die Übersetzung, diesmal von Michael Kleeberg (bekannt auch als Schriftsteller und Essayist), wieder exzellent.

Cover © Liebeskind Verlag

  • Autor: Chloe Hooper
  • Titel: Der große Mann – Leben und Sterben auf Palm Island
  • Originaltitel: The Tall Man
  • Übersetzer: Michael Kleeberg
  • Verlag: Liebeskind
  • Erschienen: 22.02.2016
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 366
  • ISBN: 978-3-95438-057-2
  • Sprache: Englisch
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite beim Verlag
    Leseprobe

Wertung: 11/15 dpt


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