Immer wieder mal gibt es die Diskussion, wie politisch die Literatur sein dürfe, müsse oder könne – und im diskursiven Gleichschritt ereilt dieser Diskurs natürlich auch die Literaturkritik. Und das schon seit – immer. So wird diese Rezension auch keine programmatische Antwort auf diese Frage geben, doch sei warnend vorweg geschrieben, dass die Besprechung der drei Bücher, um die es nun gehen wird, dem Rezensenten nicht nur erlauben, passagenweise politisch Stellung zu beziehen, sondern es erfordern.
Genug der Vorrede, richten wir den Blick auf die drei Bücher: Es ist eine schöne Mischung – der meinungsstarke Essay ‘Europa am Abgrund’ von Brendan Simms und Benjamin Zeeb, ein sehr konzentrierter und fest auf dem Boden juristischer Formulierungen stehender Reden- und Essayband ‘Europa ja – aber welches?’ des emeritierten Professors für Öffentliches Recht Dieter Grimm und das ebenso informative wie berührende Sachbuch ‘Die neue Odyssee’ von Patrick Kingsley. Das Grundthema all dieser Bücher lautet: Europa – und auch die tiefen Risse, die der unkoordinierte Umgang der politischen Entscheidungsträger mit den ankommen bzw. ertrinkenden Flüchtlingen erzeugt hat, werden direkt oder indirekt thematisiert.
Dieter Grimm: Europa ja – aber welches?
Dieter Grimm untersucht in seinen juristisch komplex formulierten Essays vor allem den Europäischen Gerichtshof, die Schwächen, Lücken aber auch die Chancen der Europäischen Verträge und analysiert sie hinsichtlich ihrer Verfassungstauglichkeit. Das klingt etwas trocken – und doch zeigt Grimm sehr dringlich auf, wie wichtig eine eingehende Beschäftigung mit dem Europäischen Vertragswerk wäre. Es wäre weniger erschreckend, wenn dieser Impuls an uns, die wir im besten Falle privat politisch interessiert sind, gerichtet wäre. Nein, diese Aufforderung, geht mehr in Richtung der handelnden Politik, die das „Projekt Europa“ zwar irgendwie will, sich aber im Laufe der Jahrzehnte und der zunehmenden Expansion kaum oder nur unzureichend mit einem gültigen Vertragswerk beschäftigt hat. Und so faszinieren auf eine fast schon verstörende Weise die Analysen zur Emanzipation des EuGH. Das hat schon fast einen Coming-of-Age-Charakter.
Es liegt für Nicht-Juristen eigentlich schon in der Natur der Sache, dass nicht jeder Essay so flüssig zu lesen ist, manchmal ist es sehr zäh. Und doch lohnt es, sich auch mit den rechtlichen Fragen Europas zu beschäftigen, denn Grimm spielt nicht nur den Miesepeter, sondern entwirft auch ein Bild eines auf institutioneller und politischer Ebene funktionierenden Europas, das die Basis für ein lebendiges und gelebtes „Europa“ stellen kann. ‘Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie’ ist eine lohnende und vor allem erkenntisreiche Lektüre.
- Autor: Dieter Grimm
- Titel: Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie.
- Verlag: C.H. Beck
- Erschienen: 2016
- Einband: Klappenbroschur
- Seiten: 288
- ISBN: 978-3-406-68869-0
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Wertung: 11/15 dpt
Brendan Simms und Benjamin Zeeb: Europa am Abgrund. Plädoyer für die vereinigten Staaten von Europa
Etwas flüssiger, aber dafür eher meinungs- denn faktenorientiert liest sich ‘Europa am Abgrund – Plädoyer für die Vereinigten Staaten von Europa’ des Autorenduos Brendan Simms und Benjamin Zeeb. Simms ist Historiker und Professor für die Geschichte Internationaler Beziehungen an der Universität Cambridge, Zeeb ist ebenfalls Historiker und ist Mitbegründer sowie Geschäftsführer des „Projekt for Democratic Union“, einem Think-Tank, der eine weitgehende bzw. vollständige demokratische Union der Eurozone anstrebt.
Europa als Friedensprojekt, als wichtiger Binnenmarkt und auch als relevante Finanzzone im Zeichen der Globalisierung: Das sind die Säulen, auf denen die Eurozone steht und die in den vergangenen Jahrzehnten genau das umgesetzt und garantiert haben, was nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges die fast einhellige Botschaft war: Nie wieder Krieg auf europäischem Boden. Dass Städtepartnerschaften, Schulaustausche und eine gemeinsame Währung kein Garant für ein funktionierendes Europa der Regionen ist, das zeigen die Finanzkrise und der bodenlos unkompetente Umgang europäischer Politiker mit den Flüchtlingen.
Ein Verbund, der derart ins Wanken gerät, wenn ein Staat, der nie mehr als ein Prozent zur Europäischen Wirtschaftsleistung beigetragen hat, alle anderen Mitgliedsstaaten fast bis an den Abgrund zieht, oder der bei einer Zuwanderungsquote von gerade einmal einem Prozent zu zerbrechen droht, der kann nicht mehr als fragil sein. Hinzu kommen Beschlüsse, die einstimmig beschlossen werden müssen – bei 28 bzw. jetzt 27 Mitgliedsstaaten kann sich jeder ausmalen, wie viel da von den ursprünglichen Vorschlägen übrig bleiben kann, um einen vollumfänglichen Kompromiss zu erzielen.
All diese Fragen spielen in dem Essay eine Rolle aber werden nicht überzeugend entkräftet. Manche Erklärung wirkt auf die ersten zwei, drei Blicke banal, man möchte sie fast ärgerlich überlesen – und doch zeigen sie, auf welcher moralischen Basis Europa funktioniert: Da ist beispielsweise die Frage, warum Angela Merkels Entscheidung, die Flüchtlinge, die in Ungarn festgehalten wurden, nach Deutschland zu lassen, den Kontinent so aus dem Gleichgewicht gebracht hat. Erklärt wird dies mit der geographischen „Mittellage“ Deutschlands, wodurch jeder angrenzende Staat mehr oder weniger durch diese – und viele andere Entscheidungen Deutschlands – in „Mitleidenschaft“ gezogen würden. Wäre Deutschland ein Randstaat und hätte diese Entscheidung getroffen, so wäre der Applaus aller anderen Staaten der Eurozone überwältigend gewesen.
Das mag stimmen – aber für den Rezensenten offenbart sich hier ein gar kläglich moralisches Bild, das aber die „Solidarität“ Europas mehr als passend beschreibt. Heute ist ja wieder wie in den Jahrzehnten zuvor: Die Hauptarbeit leisten die allgemein anerkannt wirtschaftlich stärksten und politisch stabilsten Staaten Europas: Griechenland und Italien. Ach ja, und die Türkei, die ist ja noch weiter am Rand. Nichtsdestotrotz entwerfen Simms und Zeeb eine Zukunft Europas, die vielleicht wünschenswerter aber auch utopischer kaum sein könnte.
Der Verfasser dieser Zeilen ist ein ausgewiesener Freund utopischer Sichtweisen, konstruktiver Perspektiven und Zukunftsentwürfen – doch wenn man sich dabei zu weit von den – empfundenen – Realitäten entfernt, verlieren sie ihren Zauber. Europa als Wirtschafts- und Finanzraum kann sehr gut funktionieren, das haben die vergangenen Jahrzehnte gezeigt. Und solange es wirtschaftlich desaströs wäre, einen Krieg gegen einen europäischen Nachbarstaat zu führen, solange wird dies auch die Politik nicht wollen.
Die wirtschaftlichen Verbindungen und Verpflichtungen innerhalb der Eurozone dürften also als Friedensgarant ausreichen. Dass es die vielbeschworene Wertegemeinschaft in Europa nicht gibt – darüber muss sicherlich leider nicht mehr diskutiert werden. Dass sie wünschenswert wäre, da gibt der Rezensent Simms und Zeeb Recht – doch allein, es fehlt der Glaube. Und solange Uneinigkeit darüber herrscht, was zu einem europäischen Wertekanon gehört und was dies konkret in politisches Handeln bedeutet, solange wird auch die anvisierte gemeinsame Außen- und Verteidigungs- oder Innenpolitik kaum realisierbar sein.
Es fällt sehr, sehr schwer, diesen Satz zu schreiben, aber: Es gilt das Primat der Wirtschaft – sie scheint der ausschlaggebende und kittende Faktor zu sein, der die Existenz des politischen Europas auf absehbare Zeit garantieren kann. Immerhin eine Basis, auf der nach dem politischen Ende einiger gegenwärtig agierender Politiker das Projekt „Europa“ neu angegangen werden kann und sich die dann politisch Agierenden dabei auch gerne von dem Essay von Simms und Zeeb inspirieren lassen sollten. Das ist dieser Band allemal: Inspirierend.
- Autoren: Brendan Simms, Benjamin Zeeb
- Titel: Europa am Abgrund. Plädoyer für die Vereinigten Staaten von Europa
- Übersetzer: Hans Freundl
- Verlag: C.H. Beck
- Erschienen: 2016
- Einband: Klappenbroschur
- Seiten: 140
- ISBN: 978-3-406-69157-7
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 10/15 dpt
Patrick Kingsley: Die neue Odyssee
Alles andere als inspirierend ist die Lektüre des Sachbuchs ‘Die neue Odyssee’ von Patrick Kingsley. Kingsley ist Migrationskorrespondent des Guardian und hat im Rahmen seiner Reportagen Menschen auf ihrer Flucht begleitet. Diese Erfahrungen, Begegnungen und Gespräche fließen zu einem großen Teil in das Buch ein und ergänzen die journalistisch analysierenden Passagen. Das politische und moralische Zeugnis, das Kingsley einer Vielzahl europäischer Staatenlenker ausstellt, ist tatsächlich desaströs. Der Krieg in Syrien ist nicht erst 2015 ausgebrochen, die Zahl der in Europa ankommenden Flüchtlinge war in ihren Dimensionen lange bekannt – und doch wurden keinerlei Vorbereitungen oder präventive Leistungen erbracht.
Wie das politische Europa mit den Menschenleben spielt, wie innerstaatliche Konflikte auf dem Rücken der Flüchtlinge ausgetragen werden, wie gegen europäische Gesetze und Vereinbarungen im Namen der „Flüchtlingswelle“ verstoßen wird, wie auch in Deutschland Politiker jenseits der indiskutablen AfD grundgesetzwidrige Forderungen stellen, all dies findet sich in diesem Buch. Die politischen Mechanismen, die oftmals erschreckend banal menschenfeindlichen Motive, die hinter den Entscheidungen stehen, legt Kingsley in seinen Reportagen offen. Es ist schon erstaunlich wie in Unkenntnis oder in schierer Verleugnung von Zahlen und Fakten Argumente für diese oder jene Forderung aus einem „Bauchgefühl“ oder einem „ich glaube, dass“ kommen und kaum mehr die Mühe unternommen wird, selbige durch Argumente zu untermauern.
Schlimmer und beinahe unerträglich wird die Lektüre dann, wenn Kingsley seine Analysen mit den eindrücklichen Schicksalen der Menschen kontrastiert, die er begleitet hat. An manchen Stellen wirkt die Mischung und Schicksalsreportage und journalistischer Analyse etwas aufgesetzt, doch dies mag der angelsächsischen Tradition des Storytellings im Sachbuch geschuldet sein. Und womöglich mag es auch in Deutschland für so manchen „Ich habe ja nichts gegen… aber … das wird man ja noch sagen dürfen. Armes Deutschland“-Syntaktiker dadurch mehr als geeignet sein, etwas mehr Empathie zu entwickeln. Einen kleinen Mantel des Schweigens legen wir auch auf die bemühten Vergleiche zu Homers ‘Odyssee’ – das sind eher kleine journalistische Spielereien, die aber literaturwissenschaftlich keinen Wert und aus der Lektüre heraus keinen spannenden oder erkenntisfördernden Mehrwert haben. Der Rezensent weiß, dass folgender Wunsch ebenso utopisch ist wie die Realisierung der Vereinigten Staaten von Europa und Post-Nationales Denken: Dennoch wünscht er sich, dass so viele besorgte Bürger mal einen Blick in dieses Buch werfen. Denn wer „besorgt“ ist, der hat in erster Linie Fragen. Und die kann das Buch sicherlich teilweise beantworten.
- Autor: Patrick Kingsley
- Titel: Die neue Odyssee. Eine Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise
- Originaltitel: The New Odyssey. The Story of Europe’s Refugee Crisis
- Übersetzer: Hans Freundl, Werner Roller
- Verlag: C.H. Beck
- Erschienen: 2016
- Einband: Gebunden
- Seiten: 332 Seiten mit 21 Abbildungen und 14 Karten
- ISBN: 978-3-406-69227-7
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 12/15 dpt