Jonas Lüscher – Kraft (Buch)


Jonas Lüscher - Kraft Cover © CH Beck Ein Intellektuellen-Roman und eine poetische Inszenierung der Ochlokratie

Es ist schon eine Crux – die Last, die nach einem hochgelobten Debüt auf dem zweiten Roman liegt. Jonas Lüscher dürfte da keine Ausnahme sein. 2013 erschien mit ‘Frühling der Barbaren’ ein beißendes, treffendes und dabei hochunterhaltsames Ideenspiel, in dessen Mitte Protagonisten der internationalen Finanzwelt stehen. In seinem aktuellen Roman ‘Kraft’ ist es eine Figur, Richard Kraft, ein Rhetorikprofessor aus Tübingen, der im Zentrum des Buches steht.

Kraft, Mitte 50, in zweiter Ehe äußerst unglücklich verheiratet, Vater von Zwillingen – und finanziell nicht so aufgestellt, dass er die längst überfällige Scheidung monetär überleben könnte. Und so kommt die Einladung seines alten Studienfreundes István Pánczél, inzwischen Professor in Stanford, an einem Essay-Wettbewerb teilzunehmen, gerade recht. Dotiert ist der Preis mit einer Million Dollar – die Frage, die es für den Wissenschaftler in einem Essay, der vorgetragen nicht länger als 18 Minuten dauern sollte, zu beantworten gilt, lautet: ‘Weshalb alles, was ist, gut ist und wir es dennoch verbessern können’. Kraft befindet sich zwar in einer eher trägen und uninspirierten Phase, nicht nur privat, sondern auch intellektuell – doch die Aussicht auf das Geld und die sich wunschweise erkaufte Freiheit in Form einer Scheidung, lässt ihn die Einladung annehmen.

Während Kraft im Haus seines Freundes an der Ausarbeitung seines Vortrags sitzt und der Leser auf sehr dramatische Weise mit der quälenden Ideenlosigkeit Krafts konfrontiert wird, streut Jonas Lüscher Episoden aus der Studienzeit und den ersten Lehrjahren als Professor ein – gleichsam, als nehme er Richard Kraft in Schutz.

Tatsächlich galt Kraft früher als ausgewiesen intelligenter Bursche, hat in seinen Seminaren immer wieder für Aufsehen gesorgt. Die universitäre Karriere schien der logische Schritt zu sein. Ihm selbst wurde der „Wunderkind“-Status dann ein wenig zu unheimlich, und er suchte sich ein gar absonderliches Hobby: Er wurde Anhänger des Neoliberalismus. In István Pánczél, der sich als ungarischer Dissident vorstellte, findet er einen politischen Mitstreiter. Beide suhlen sich in ihrer Begeisterung für den Thatcherismus und den Neoliberalismus á la Graf Lambsdorff. So passte es nur zu gut, dass er sich zufällig in die betont mütterlichen Hüften der Ruth Lambsdorff, einer weitläufigen Verwandten eben jenes Otto verliebte. So erleben wir Kraft und István beim Reagan-Empfang – und besonders eindringlich während des Misstrauensvotums gegen Helmut Schmidt und dem mit Helmut Kohl verbundene Versprechen der geistig moralischen Wende. Von heute aus betrachtet darf man es durchaus als erschreckend bewerten, dass „der Dicke“ Hoffnungsträger war. Selbst Kraft wird schon beim Betrachten der Fernsehbilder ein wenig schwummrig:

Kraft fühlte ein Unbehagen, aber er verdrängte es und versuchte, sich mit seinem Freund zu freuen, doch als sich zu guter Letzt auch noch der Kanzler in spe hinter das Rednerpult bemühte und die Schwerfälligkeit seiner Erscheinung, seines Denkens und seiner Sprache durch dynamisches Auf- und Abfedern zu verbergen versuchte, war ihm plötzlich, als habe er sich an rustikaler Kost überessen, und noch viel schlimmer, dass nun vielleicht für lange Zeit nur noch deftig Mastiges auf den Tisch kommen werde.

Was bei all den Episoden auffällt: So wirklich zwingend und verbindlich scheint in Krafts Leben nichts zu sein. Sein Leben plätschert so ohne Höhepunkt und ohne Eifer vor sich hin. Hier droht der Roman auch hin und wieder an Fahrt zu verlieren. Was das Buch am Ende aber auszeichnet, ist Lüschers feines Gespür, seine Protagonisten charmant aber bestimmt an ihren selbstmaximierenden Ansprüchen scheitern zu lassen – nicht zuletzt scheitert Kraft auch an seinem ersten Dissertationsprojekt, einer Auseinandersetzung mit Isaiah Berlins „Fuchs- und Igel-Theorie“. Das Fanal dieses rein auf Rationalisierungsdenken ausgerichtete Maximierungsstreben taucht hier, wenn auch nur kurz, in Form des Soylent auf. Der geneigte Leser mag hier selbst recherchieren und sich dann selbst ein wenig grausen – oder es selbst ausprobieren, je nach gusto.

Jonas Lüscher macht es seinen Lesern nicht ganz einfach. Das gilt aber auch schon für sein Debüt. Sprachverliebt ist er, er liebt lange, sich über Absätze hinziehende Sätze, und er mag Ideengeschichte, Wissenschaftstheorie und Wirtschaftstheorien.

Das sollte man als potenzieller Leser dieses Romans vorab wissen: Wer das aber auch mag, nun, der wird ‘Kraft’ mit großem Gewinn lesen können. Ob der Roman, wie mancherorts zu lesen ist, eine Gegenwarts- und Trumpdiagnostik besitzt, das muss hier nicht abschließend geklärt werden. Wenn dem so sein sollte, dann ließe sich eine geistige Linie zwischen Kohl, Thatcher, Reagan, neoliberalen Theorien und – man lese und staune: Donald Rumsfeld ziehen. Wenn die „geistig moralische Wende“ hin zu einer Ochlokratie, also die Herrschaft des habgierigen Pöbels, mit Kohl begonnen haben sollte, dann kommt sie gerade an ihren Höhepunkt – und zeigt wieder einmal die Anfälligkeit gerade von Intellektuellen für Allmachtsphantasien (sinnigerweise war Ochlo zur Jugendzeit des Rezensenten ein Tarnwort für das irgendwie ähnlich klingende Synonym für Darmausgang).

Cover © C.H.Beck

Wertung: 11/15 dpt


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