Jirō Taniguchi – Venedig (Buch)


Cover © Carlsen Verlag„Der Aufbruch ist nichts anderes als der Beginn einer Reise nach Hause.“1

Dem folgend begibt sich Jirō Taniguchis namenloser Protagonist auf die Spuren seiner Großeltern und reist nach Venedig. Handgemalte Postkarten des nie gekannten Großvaters sowie in Venedig aufgenommene Fotografien, welche Taniguchis Protagonist unter den Hinterlassenschaften seiner Mutter in einer Briefschatulle findet, bilden den Auslöser. Wenig über die Vergangenheit seiner Großeltern wissend, lässt er sich auf seiner Reise von den Fundstücken leiten, sucht und findet die abgebildeten Orte und entdeckt auf diese Weise in der Fremde nicht nur einen Teil ihm bis dahin unbekannter Familiengeschichte, sondern auch ein Stück Heimat.

Seine Reise beginnt wie die der meisten Venedig-Touristen auf der Piazza San Marco, dem Markusplatz. Durch seine Augen genießt der Rezipient die Aussicht über den weiten Platz, über die Kanäle und über die gesamte Stadt. Seinem aufmerksamen Blick entgeht dabei kein Detail. Auch Einzelheiten der Bauwerke, am Boden oder am Himmel rücken in das Betrachtungsfeld. Außerhalb seines Blickfeldes ist auch er selbst Abbildungsgegenstand. Betrachtend flaniert er sowohl bei Sonne als auch bei Regen, bei Tag als auch bei Nacht, durch von Touristen belagerte Plätze wie durch abseitige Orte.

Anhand der Fundstücke versucht der Flaneur die Perspektive seiner Großeltern einzunehmen, sich zurückzuversetzen in die Zeit, in der sie Venedig erkundeten, wahrzunehmen, was sie damals wahrnahmen. Dies stellt sich als unerwartet leichtes Unterfangen heraus. In Venedig scheint die Zeit geradezu stehen geblieben zu sein. Das Stadtbild hat sich kaum merklich verändert. Und so findet Taniguchis Protagonist die gesuchten Orte nicht nur problemlos. Er findet auch Zeugnisse der damaligen Anwesenheit seines Großvaters, findet Spuren, die ihn zu ehemaligen Stammplätzen von diesem führen und ihm Einblicke in dessen Leben gewähren. Vergangenheit und Gegenwart rücken nah aneinander. Dies visualisiert Taniguchi durch die Überlappung der gegenwärtigen Wahrnehmung des Protagonisten mit den Erinnerungsträgern seiner Großeltern.

Die die Bilder umspielende, lose verknüpfende Erzählung eines Mannes, der auf Spurensuche seiner Ahnen durch Venedig reist, ist jedoch mehr Beiwerk als Kern dieses als Reisebuch angelegten Werkes. Das ursprünglich für die Louis Vuitton-Buchreihe „Travel Book“ ins Leben gerufene Konzept sah es vor, dass es sich bei „Venedig“ um ein reines, auf Bildern basiertes Reisebuch handeln sollte, bei dem sich der Künstler ganz auf die Darstellung der Stadt konzentriert. Die zusätzliche Einarbeitung einer Geschichte erfolgte erst auf Taniguchis eigenen Wunsch. Nichtdestotrotz ist das Buch kein Manga im eigentlichen Sinne, sondern den Vorstellungen des Luxuslabels entsprechend, tatsächlich ein Reiseführer in Bildern geworden. Taniguchis Bilder, die gezeichnet und gemalt Aquarellen nahekommen, widmen sich primär einer umfassenden Abbildung der einmaligen Atmosphäre, der pittoresken Prachtarchitektur und den vielen Besonderheiten der zeitlos schönen Lagunenstadt als der präzisen Ausarbeitung und Darstellung der skizzierten Geschichte. Die initiale Intention des Werkes spiegelt sich zudem in einer abschließenden Übersicht sämtlicher abgebildeten Orte wider, die dem Rezipienten die Möglichkeit gibt die von Taniguchi malerisch interpretierten Stellen, ganz ohne Spurensuche, selbst eines Tages aufzusuchen.

Das Buch schließt mit einem Nachwort – sowie einem biographischen Abriss – des im Februar dieses Jahres verstorbenen Manga-Künstlers. Nicht nur schildert Taniguchi darin den Entstehungsprozess des Werkes, auch teilt er seine ganz persönlichen ersten sowie weiteren Eindrücke der Stadt. Beim ersten Besuch, vielleicht auch noch beim zweiten und dritten, erscheint einem Venedig wie ein Labyrinth, aus dem auch keine Karte heraushilft, berichtet so Taniguchi etwa. Ein Eindruck, den jeder Venedig-Besucher nur teilen kann und der dieser Sammlung von Impressionen eine unbeschwerte Authentizität einverleibt. Eine Fortsetzung dieses großartigen Bildbandes, zu welcher Taniguchi sich im Juli 2016 noch angeregt bekannte, wird es nun nicht mehr geben. Wie sehr Venedig Taniguchi inspirierte, begeisterte und bewegte spiegelt sich jedoch längst auf jeder Seite dieses nostalgischen Stadtführers wider und verewigt die visuelle Rundreise, auf die Taniguchi den Rezipienten einlädt, als äußerst persönliche und einnehmende Erfahrung.

Cover © Carlsen Verlag

Wertung: 14/15 dpt


  1. Taniguchi, Jirō: Venedig. Übersetzt von Jens Ossa. Hamburg: Carlsen 2017, S. 103. []
1 Kommentar
  1. Danke für das teilen und aufmerksam machen auf das Werk. Ich bin ein großer Taniguchi Fan, wusste aber nicht, dass er sich Venedig auch gewidmet hat. Und ich bin immer noch sehr traurig, dass er dieses Jahr von uns gegangen ist.

Schreibe einen Kommentar

Hinweis: Mit dem Absenden deines Kommentars werden Benutzername, E-Mail-Adresse sowie zur Vermeidung von Missbrauch für 7 Tage die dazugehörige IP-Adresse, die deinem Internetanschluss aktuell zugewiesen ist, in unserer Datenbank gespeichert. E-Mail-Adresse und die IP-Adresse werden selbstverständlich nicht veröffentlicht oder an Dritte weitergegeben. Du hast die Option, Kommentare für diesen Beitrag per E-Mail zu abonnieren - in diesem Fall erhältst du eine E-Mail, in der du das Abonnement bestätigen kannst. Mehr Informationen finden sich in unserer Datenschutzerklärung.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Ähnliche Beiträge

Du möchtest nichts mehr verpassen?
Abonniere unseren Newsletter!

Total
0
Share