Max Bentow – Das Porzellanmädchen (Buch)


Max Bentow - Das Porzellanmädchen (Cover © Goldmann)«Schreiben Sie einen Roman. Erfinden Sie Horror für mich.»

Horror ist ein gutes Stichwort des Literaturagenten der Protagonistin in Max Bentows neuem Buch „Das Porzellanmädchen“. Horror – richtiger, unangenehmer Kalter-Schauer-Horror – lässt einem beim Lesen nämlich gleich mehrfach die Haare zu Berge stehen. Unangenehm ist auch direkt das nächste Stichwort, denn das ist die Geschichte vom ersten Kapitel bis zum Schluss. Und doch ist es nicht wirklich eine Horror-Story, sondern ein packender Psycho-Thriller mit verstörenden Grusel-Elementen.

Im Zentrum steht dabei Luna Moor – benannt nach dem fahlen Mondlicht und dem sumpfigen Gelände der im Buch beschriebenen Gegend.

Luna ist eine erfolgreiche junge Autorin, ihre Bücher behandeln die tiefsten Abgründe menschlicher Seelen. Niemand ahnt, woher sie ihre Inspiration nimmt und dass in ihren Werken mehr Wahrheit steckt, als ihre Leser sich überhaupt vorstellen können. Als Sechzehnjährige wurde Luna entführt, in die dunkle Dachkammer eines abgelegenen Hauses am Rande von Berlin gesperrt und von einem Mann, den sie nur „das Insekt“ nennt, missbraucht. Ihr Peiniger – sein Gesicht immer mit einer Gasmaske verdeckt – lebte an dem Mädchen mit heller Haut und schwarzem Haar seine kranken Fantasien aus. Für ihn war sie sein Püppchen.

Doch Luna war nicht allein in dem muffigen Raum, eine Porzellanpuppe mit seltsamen Augen in verschiedenen Blautönen leistete ihr zweifelhafte Gesellschaft. Immer wieder hörte das Mädchen die Puppe, die ihr auf verstörende Art ähnlich sah, mit krächzender Stimme sprechen, Befehle erteilen. Eines Tages dann die Wende: Luna entkam aus der Gewalt des Perversen.

Jahre später entschließt sich Luna, an den Ort des Grauens zurückzukehren und dort, wo sie die schlimmste Zeit ihres Lebens verbrachte, ihr neues Buch zu schreiben. Vielleicht ihr Letztes, denn möglicherweise bringt sie diese Geschichte um. Mit diesem Gedanken zieht sich Luna gemeinsam mit Leon, dem fünfzehnjährigen Sohn ihrer Freundin, in das Schreckenshaus zurück und erlebt dort einen ganz neuen Horror, der die Frage aufwirft, wie unschuldig die Autorin wirklich ist.

Schon die ersten Seiten, die Lunas Entführung und den Missbrauch durch „das Insekt“ behandeln, erzeugen eine extreme Beklemmung. Das Weiterlesen fällt fast schwer, denn die Handlungen des Peinigers sind krank, ekelhaft und absurd. Bentow erzeugt bereits zu Beginn eine greifbar düstere Atmosphäre, die zugleich fasziniert und abstößt. Das unangenehme Gefühl zieht sich durch das gesamte Buch, wenn auch in ganz unterschiedlichen Ausprägungen. Der Missbrauch, ein Stalker, der Fünfzehnjährige, der offenbar in die Protagonistin verliebt ist, das einsame Haus, Lunas instabiler Geisteszustand und nicht zuletzt die fürchterlichen, allgegenwärtigen Puppen sind allesamt auf ihre Weise verstörend, erzeugen allesamt verschiedene Arten von Beklemmung. Es gibt keine Pausen, nicht einmal am Ende kann man wirklich durchatmen. Der schale Geschmack bleibt.

Bentow wollte nach seiner – weiterhin fortgesetzten – Nils-Trojan-Reihe eine Geschichte mit nur einer Handvoll Charaktere und ganz ohne Ermittlungsarbeit schreiben. Dies ist ihm zweifellos gelungen. Wir erleben die Handlung aus Lunas und Leons Sicht und erhalten auch einige Einblicke in die Vergangenheit des Täters. Daneben lesen wir immer wieder Auszüge aus Lunas Thriller – ein Buch im Buch also. Nach und nach verknüpfen sich die Geschichten und man kann kaum noch zwischen Lunas Realität und ihrer vermeintlichen Fiktion unterscheiden. Wie viel ihrer eigenen Protagonistin steckt in ihr selbst? Zu welchen Taten ist Luna fähig? Leon – sanftmütig, fürsorglich, aber auch neugierig und offenbar in Luna verliebt – ist ihr optimaler Gegenpart, der sie unermüdlich versucht, auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Aber auch er weiß irgendwann nicht mehr sicher, was noch real ist.

Immer wieder hört Luna die Puppe, die auf Umwegen wieder auftaucht, zu sich sprechen und auch Leon vernimmt eine krächzende Stimme, als er der Autorin eines Nachts folgt. Leidet Luna womöglich unter einer dissoziativen Identitätsstörung? Spricht sie am Ende mit sich selbst? Oder hat sie eine paranoide Schizophrenie und glaubt, dass die Puppe ihr Befehle gibt? Aber wen hört Leon dann sprechen? Als Leser ist man ununterbrochen hin- und hergerissen, weiß nicht, ob Luna verrückt oder die Puppe vielleicht sogar tatsächlich „böse“ ist. Das liegt sicher nicht zuletzt daran, dass (Porzellan-)Puppen durch diverse Horrorfilme negativ besetzt sind und gerne mal für den einen oder anderen Gruselschauer sorgen. Bentow spielt hervorragend mit diesen Ängsten und erzeugt allein durch die Beschreibungen der Puppen ein bis ins Mark ungutes, unheimliches Gefühl.

Die Erzählweise passt wie die Faust aufs Auge. Bentow passt sie immer wieder den Gefühlszuständen der Charaktere an. Mal abgehackt, atemlos und mit sehr kurzen Sätzen, mal detailliert und beschreibend. In den Kapiteln aus Lunas Buch wechselt der Stil ins Schonungslose – die Gewalttaten und der zunehmende Wahnsinn der Hauptfigur Marie wurden detailliert und ungeschönt zu Papier gebracht Das einzig Störende ist die fortwährende Wiederholung der Wendungen „nicht wahr?“ und „hab ich recht?“ in den Dialogen.

Ein zweiter Punkt, den man kritisieren könnte, ist ein gewisses Maß an Vorhersehbarkeit. Aber auch, wenn man recht schnell einen Verdacht hegt, schadet dies der Spannung in keinster Weise. Denn die Hintergründe bleiben bis zur Auflösung unklar.

Zum Schluss erwähnenswert: Selten hat ein Cover besser zur Geschichte gepasst als bei diesem Buch.

Fazit: Mit seiner Nils-Trojan-Reihe feierte Max Bentow bereits große Erfolge und machte sich in der Thriller-Welt einen Namen. Sein erster eigenständiger Roman ist nicht minder erfolgversprechend. Die Spannung lässt zu keinem Zeitpunkt nach und ist bereits von den ersten Seiten an auf einem hohen Niveau. Bentow hat sich für eine ungewöhnliche Erzählweise entschieden, die optimal zur Handlung passt. Am bemerkenswertesten ist aber die durchgängig unangenehme, verstörende und beklemmende Atmosphäre, die keine Erholungspausen zulässt. „Das Porzellanmädchen“ ist kein Buch für zarte Gemüter und bringt selbst hartgesottene Leser an Grenzen – nicht etwa, weil Grausamkeiten besonders plastisch beschrieben würden, sondern vielmehr weil die krankhaften Fantasien des Mörders, die Puppen und der allgegenwärtige Horror ohne Umwege an die Psyche gehen.

Cover © Goldmann

Wertung: 13/15 einäugige Porzellanpüppchen


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