Irvine Welsh – Kurzer Abstecher (Buch)


Irvine Welsh - Kurzer Abstecher - Cover © Heyne«So ist das mit der Familie. Man hat vielleicht nix miteinander am Hut, möglicherweise hasst man sich sogar. Aber kein Außenstehender, niemand der nicht von unserem Blut ist, darf solche Dinge über einen von uns sagen.»

Irvine Welsh ist neben John Niven DER schottische Kultautor schlechthin. „Trainspotting“ ist nach wie vor sein größter Erfolg – wer das Buch nicht gelesen oder den Film nicht gesehen hat, dem ist zumindest der Titel ein Begriff. Welsh-Fans treffen in „Kurzer Abstecher“ nun auf bekannte Charaktere: Allen voran Frank Begbie, der sein altes Leben als brutaler Schläger, Knacki, Säufer hinter sich gelassen und als Jim Francis einen Neuanfang gewagt hat. Aber auch weitere Namen, die Trainspotting-Kennern geläufig sein dürften, tauchen in der Geschichte immer wieder auf. Das soll nicht heißen, dass nur Insider Spaß an diesem Stück schottischer Literatur haben werden. Nein, auch, wer hier seinen ersten Welsh liest, wird nicht enttäuscht und kann der Story problemlos folgen.

Zunächst befinden wir uns allerdings nicht in Schottland, sondern im sonnigen Los Angeles. Hier hat Frank Begbie, der sich nun Jim Francis nennt, mit seiner wunderschönen Frau und zwei süßen kleinen Töchtern ein neues, beschauliches Leben als freischaffender Künstler begonnen. Es geht ihm bestens, seine Vergangenheit hat er hinter sich gelassen – bis die Nachricht vom Tod seines Sohnes aus erster Ehe ihn zurück nach Schottland zwingt. Er kommt bei seiner Schwester unter, wo ein Streit dem anderen folgt. Immer wieder trifft er auf alte Bekannte, die ihm sein neues Ich nicht wirklich abkaufen wollen. Je länger er in seiner Heimat bleibt, desto mehr tragen Frank Begbie und Jim Francis einen inneren Kampf aus. Dass sein Sohn offenbar ermordet wurde, erschwert die Situation zusätzlich, denn Begbie will den Mörder um jeden Preis finden. Dabei wird er immer stärker in eine Rolle gedrängt, die er eigentlich hinter sich gelassen hatte. Für seine “Freunde” in Schottland ist er nach wie vor der Alte. So stellt sich immer wieder die Frage: Kann ein Mensch sich wirklich ändern?

Der Kontrast zwischen den beiden Leben des Protagonisten ist besonders eindrücklich dargestellt. In den USA ist alles bunt, hell, harmonisch, fröhlich – hier gehört er dank seiner wohlhabenden Frau zur Oberschicht. In Schottland erwartet ihn der krasse Gegensatz: Hier kehrt er zurück in die Unterschicht und trifft auf die Unterwelt, düster, kaputt, trist, asozial. Begbie will in keine der beiden Welten so recht passen. Er ist nicht mehr der alte Begbie, aber eben auch nicht wirklich der neue Jim Francis, der er zu sein versucht. Diesem Antihelden mit seiner inneren Zerrissenheit zu folgen macht Spaß und lässt einen immer wieder darüber nachdenken, inwieweit er sich tatsächlich geändert hat und ob er sich mit seinem neuen Leben im Endeffekt nicht vielleicht selbst belügt.

Wie Begbie zu dem geworden ist, der er in der Vergangenheit war, erfahren wir in Einschüben, die einen Blick in seine Kindheit werfen. Auch die Anfänge mit seiner Ehefrau Melanie werden beleuchtet und geben so einen Eindruck von seinem Weg als Jim Francis. Der rote Faden, der sich durch das gesamte Buch zieht, ist die Familie – die alte und die neue. Denn letztendlich ist sie genau das, wofür Frank Begbie und Jim Francis gleichermaßen kämpfen.

Diese spannende Reise, die mit jeder Seite düsterer und brutaler wird, sogar Thriller-Züge annimmt, erzählt Welsh in seiner typischen Art. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, geizt nicht mit schnoddriger Sprache und zeichnet ein wenig charmantes Bild von Schottland. Der schottische Akzent kommt in der deutschen Übersetzung naturgemäß leider nicht zur Geltung. Wer kann, sollte Welsh daher lieber auf Englisch lesen, um noch besser in die Geschichte einzutauchen und die sprachlichen Feinheiten zu genießen. Empfehlenswert ist aber auch die deutsche Fassung allemal! Und man muss sagen, dass der deutsche Titel fast noch besser zum Buch passt als der originale.

Fazit: „Kurzer Abstecher“ ist Rache-Thriller, aber auch Familien-Drama, gewährt einen Blick auf die gesellschaftlichen und sozialen Abgründe Schottlands, stellt aber auch die innere Zerrissenheit des Protagonisten und die Frage, ob ein Mensch sein altes Ich wirklich komplett hinter sich lassen kann, in den Vordergrund. Gewalt und Brutalität, die schottische Unterwelt, fragwürdige Charaktere, Alkohol- und Drogenexzesse kommen dabei – ganz so, wie man es von Welsh erwartet – natürlich nicht zu kurz. Dennoch ist die Geschichte, genau wie Begbie selbst, erwachsener, etwas gediegener, tiefgründiger, ohne dabei etwas von der typischen Rotzigkeit einzubüßen.

Cover © Heyne Hardcore

  • Autor: Irvine Welsh
  • Titel: Kurzer Abstecher
  • Originaltitel: The Blade Artist
  • Übersetzer: Stephan Glietsch
  • Verlag: Heyne Hardcore
  • Erschienen: 09/2017
  • Einband: Klappenbroschur
  • Seiten: 272
  • ISBN: 978-3-453-27118-0
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite 
    Erwerbsmöglichkeiten

Wertung: 11/15 kurze Abstecher


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