Jens Lubbadeh – Neanderthal (Buch)


Jens Lubbadeh - Neanderthal (Cover © Heyne)«Nur dass es so gut wie keine Götter mehr gab, höchstens für die Unverbesserlichen. Der überwiegende Rest der Deutschen huldigt nur noch einem Gott – dem eigenen Körper.»

Im Jahr 2053 zählen nur noch zwei Dinge: Schönheit und Gesundheit. Behinderungen sind kaum noch vorhanden, Föten werden bereits im Mutterleib optimiert, um nach der Geburt möglichst perfekt zu sein. In dieser Welt stößt der Kommissar Philipp Nix auf eine Leiche, die von diesem Schönheitsideal weit entfernt ist. Die Ermittlungen führen ihn zu einem Massengrab, in dem scheinbar die Überreste von Neandertalern liegen. Nix zieht die beiden Paläontologen Max Stiller und Sarah Weiss hinzu. Als sie herausfinden, dass die Knochen tatsächlich von Neandertalern stammen, aber nur knapp dreißig Jahre alt sind, schweben sie in Lebensgefahr. Denn das „Ministerium für Gesundheit und Glück“ kann keinesfalls zulassen, dass die Wahrheit ans Licht kommt.

Harter Tobak, den wir hier lesen. Der Wissenschaftsjournalist Jens Lubbadeh entwickelt in seinem Roman eine beängstigende Zukunftsvision. Deutschland hat sich gravierend verändert. Genmanipulation, die sogenannte Genpool-Hygiene, steht hoch im Kurs, werdende Mütter lassen ihre Babys in der Schwangerschaft regelmäßig kontrollieren und bei Auffälligkeiten korrigieren – und sei es nur eine Zahnfehlstellung oder Allergie. Jeder Bürger ist verpflichtet, einen Gesundheitstracker, der alle körperlichen Aktivitäten erfasst, sowie einen Mediscanner, der die Körperwerte misst, zu tragen. Gemäß dem „Gesetz zur Erhaltung und Steigerung der Populationsgesundheit“ ist jeder dafür verantwortlich, nach bestem Wissen und Gewissen seinen Beitrag zu einer gesunden Gesellschaft zu leisten. Ziel des „Ministeriums für Gesundheit und Glück“ ist es, alle Volkskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Probleme, Krebs, Diabetes, Alzheimer und Übergewicht auszumerzen. Behinderungen sind absolut unerwünscht und Betroffene werden nicht selten im Rahmen sogenannter „Ehrenmorde“ getötet – dies ist zwar nicht legal, aber auch nicht allzu dramatisch. Schließlich ist es ja das Beste für alle Beteiligten. Damit auch optisch jeder ins Bild passt, werden Schönheitsoperationen von der Krankenkasse gezahlt. Doch bei aller Optimierung gibt es eine Krankheit, gegen die bislang kein Mittel gefunden wurde: die Depression. Unterteilt in die normale und die „große“ Depression, ergreift sie von immer mehr Menschen Besitz. Unter der schweren Form leiden vor allem Jugendliche.

Das ist nur eine kleine Zusammenfassung der Welt, in die Lubbadeh den Leser entführt. Schon die ersten Seiten lassen einen schlucken und hinterlassen ein mulmiges Gefühl. Sicherlich ist es nahezu unmöglich, dass sich Deutschland innerhalb so weniger Jahre dermaßen wandeln kann, aber in Teilen ist diese Vision durchaus vorstellbar – genau das macht sie so erschreckend. Aber all das ist nur die Rahmenhandlung für die eigentliche Geschichte, die sich um die Protagonisten und ihre unglaubliche Entdeckung dreht.

Der Paläontologe Max ist gehörlos und gehört damit einer winzigen, fast schon geächteten Minderheit an. Auch seine langjährige Kollegin und Freundin Sarah entspricht nicht dem Durchschnitt. Die beiden ergänzen sich perfekt und sind Verbündete in einer Gesellschaft, zu der sie nicht richtig gehören. Sarah ist nicht nur Max‘ Kollegin, sondern fungiert auch als Übersetzerin – sie beherrscht die Gebärdensprache und ist daher unverzichtbar für die Kommunikation. Die Charakterzeichnung gelingt Lubbadeh hervorragend. Die beiden Hauptcharaktere und auch Kommissar Nix, dem im Buch eine kleinere Rolle zuteilwird, als der Klappentext vermuten lässt, überzeugen mit ihren unterschiedlichen Facetten, ihren positiven und negativen Eigenschaften, ihren Sorgen und Problemen. Durch Max erhalten wir einen sehr informativen Einblick in die Welt der Gehörlosen und insbesondere Sarah macht im Verlauf der Handlung eine faszinierende Entwicklung durch. Auch die Nebenfiguren sind interessant und vielseitig gestaltet – jeder trägt seinen Teil zur Geschichte bei und berührt den Leser auf ganz unterschiedliche Art. Die im Fokus stehenden Personen wechseln immer wieder – dies sorgt einerseits für Spannung, verwirrt aber teilweise auch ein wenig.

Während Sarah und Max versuchen aufzuklären, was es mit den nur dreißig Jahre alten Neandertaler-Knochen auf sich hat und dabei einem skandalösen Staatsgeheimnis auf die Spur kommen, begleiten wir in Zwischenkapiteln einen Neandertaler-Jäger vor 40.000 Jahren. Diese kleinen Ausflüge in die Vergangenheit ergänzen den Plot auf interessante Weise verleihen ihm eine weitere Facette, sind aber für den Fortgang nicht wirklich relevant.

Jens Lubbadeh erzählt seine Geschichte in einem recht nüchternen, aber sehr flüssigen Stil, der von wissenschaftlichen Fakten – vor allem zu den Themen Erbgut und Vererbung – durchsetzt ist. Er spinnt die aktuellen Möglichkeiten der Wissenschaft weiter, versteht es aber auch, tatsächliche Fakten für jeden Leser anschaulich einzuflechten. Zum Ende hin nehmen die wissenschaftlichen Beschreibungen immer mehr Raum ein und machen ein konzentriertes Lesen nötig. Die gesamte Handlung ist recht komplex, zahlreiche Zeitsprünge ziehen sich durch die Kapitel und die Herangehensweise, die Geschichte weiter zu erzählen, ändert sich des Öfteren. All das verlangt die ungeteilte Aufmerksamkeit des Lesers, um die Zusammenhänge in Gänze zu begreifen und in Beziehung zueinander zu setzen.

Fazit: „Neanderthal“ ist ein Wissenschaftsthriller, der bei aktuellen Themen ansetzt und sie auf beunruhigende Weise weiterdenkt. Jens Lubbadeh legt hier einen innovativen Roman vor, der ebenso spannend und faszinierend wie erschreckend und aufwühlend ist. Man fragt sich zwangsläufig, wohin uns der Schönheitswahn eines Tages wohl führen mag. Stellenweise ist die Handlung nicht ganz rund und das Ende ist ein wenig zu dick aufgetragen, insgesamt fesselt diese Zukunftsvision aber ungemein. Der Spannungsbogen bleibt durchweg auf einem hohen Niveau, die Wendungen sind überraschend und schaffen es immer wieder, zu erschüttern. Die lebendigen Charaktere tragen die Story zusätzlich, nehmen die Leser mit auf ihre Reise und lassen sie auch hinter ihre Fassaden blicken. Allerdings irritieren manche unerwarteten Perspektivwechsel; insbesondere der letzte Teil wechselt zu abrupt und unmittelbar zu einer gänzlich neuen Sichtweise.

Cover © Heyne

Wertung: 11/15 Gen-Korrekturen 


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