Jan Costin Wagner – Sakari lernt, durch Wände zu gehen (Buch)


Jan Costin Wagner - Sakari lernt durch Wände zu gehen (Cover © Galiani Berlin)«Er findet die Augen des nackten Mannes und hat das Gefühl, einen Tunnel zu betreten. Die Augen des Mannes sind schwarz und sehen durch ihn hindurch in eine fremde Ferne.»

Der nackte Mann, dem Petri Grönholm in die Augen sieht, ist der 19-jährige Sakari. Er steht – seine gesamte Kleidung fein säuberlich neben sich zusammengelegt – in einem Brunnen, in seiner Hand ein Messer, mit dem er sich immer wieder selbst verletzt und schließlich abrupt auf Petri zu geht. Der Polizist fühlt sich bedroht und erschießt Sakari. Nach seiner Tat fällt er in ein tiefes Loch, denn er fühlt sich schuldig und beginnt, sich mit dem jungen Mann auseinanderzusetzen. Er möchte wissen, wer er war, warum er nackt im Brunnen stand. Der Vorfall wirft ihn aus der Bahn und so bittet er seinen Kollegen und Freund Kimmo Joentaa um Hilfe. Joentaa begibt sich auf Spurensuche und stößt auf die Schicksale zweier Familien, die eng zusammenhängen und zugleich alles auseinander zu reißen drohen.

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Der sechste Teil um den finnischen Ermittler Kimmo Joentaa startet mit einem knappen Prolog, der zu Beginn keinerlei Sinn ergeben will. Er wirkt geradezu wirr und entlässt den Leser mit vielen Fragezeichen in die eigentliche Handlung. Erst, wenn man Sakari und seine Geschichte, die zugleich die Geschichte vieler damit verbundener Menschen ist, kennt, versteht man seine gewichtige Bedeutung.

Der Vorfall, der alles ins Rollen bringt, ist nur eine kurze Episode. Der Akt des Erschießens ist schnell vorüber, er steht nicht im Mittelpunkt. Es geht vielmehr darum, was danach geschieht und was überhaupt zur Situation im Brunnen geführt hat. Um das zu erfahren, begleiten wir eine ganze Reihe verschiedener Menschen. Zahlreiche Perspektivwechsel und sehr kurze Kapitel decken die tragische Geschichte Sakaris Stück für Stück auf. Die Knappheit der Kapitel und die vielen Sichtweisen wirken hier nicht, wie oftmals der Fall, störend, sondern tragen den Leser behutsam durch die Seiten. Dabei sticht insbesondere die lakonische Sprache ins Auge, die mit poetischen Worten eine hochgradig melancholische Stimmung erzeugt. Jan Costin Wagner wird nicht umsonst als «Meister des literarischen Kriminalromans» bezeichnet – seine wohlbedachten Worte treffen mitten ins Herz. Er entwickelt seinen Plot auf eine sehr ruhige Weise. Wir lesen hier einen entschleunigten Krimi, der sich viel Zeit nimmt, sich zu entfalten, dabei kaum spannend ist, aber trotzdem ungemein fesselt. Im Vordergrund stehen die Menschen und ihre Gefühle sowie ihre Verbindung zu Sakari. Als Leser begleitet man jeden einzelnen von ihnen und fühlt mit ihnen mit. 

Der Fokus der Handlung verschiebt sich dabei immer wieder. Während wir mehr über Sakari erfahren, tragen wir gemeinsam mit Grönholm die schwere Last auf seinen Schultern, einem Menschen das Leben genommen zu haben. Er bereut seine Tat, ist der Meinung, er hätte erkennen müssen, was wirklich in Sakari vorgeht. Weil er selbst keine Kraft hat, die Hintergründe aufzudecken, bittet er Kimmo Joentaa um Hilfe. Er, der eigentlich gerade einen entspannten Sommer mit seiner Tochter verbringen möchte, steht seinem Freund ohne zu zögern zur Seite. Er findet Sakaris Eltern und erfährt von Verbindungen zur Nachbarfamilie, die einst sehr eng waren, dann aber in sich zusammenbrachen. Das Leitmotiv hinter all den verschiedenen Schicksalen ist die Trauer. Wie gehen die Menschen mit ihr um? Wie überwinden sie sie? Tun sie das überhaupt? Was macht Trauer mit den Menschen? Jan Costin Wagner geht äußerst feinfühlig mit diesem Thema um und lässt seinen Charakteren gegenüber einen großen Respekt erkennen – niemand wird verurteilt, jeder wird in seinen Handlungen von seiner ganz eigenen Trauer getrieben.

Bei aller Traurigkeit, die das Buch transportiert, gibt es aber auch immer wieder Licht im Dunkel: Kimmos Tochter Sanna. Sie ist ein Sonnenschein, möchte mit ihren Freundinnen den Mond vermessen, kocht Spaghetti und plantscht im Pool. Sobald sie auftaucht, wird die schwere Stimmung durchbrochen und weicht einer unbändigen Freude und positiven Stimmung, die beim Lesen ein Lächeln ins Gesicht zaubert.

So offen und voller Lebenslust Sanna ist, so in sich gekehrt und ruhig ist Kimmo Joentaa. Er ist ein sehr spezieller Typ, der oft nur redet, wenn er angesprochen wird, und häufig in seinen Gedanken versunken ist. Seine Kollegen wissen um diese Eigenart und geben ihm die Zeit, die er braucht, da dieser Zustand meist zu Ergebnissen führt. Selbst, wenn man die vorherigen Teile nicht gelesen hat, wirkt Kimmo wie ein alter Freund. Obwohl man ihn gar nicht kennt, ist er seltsam vertraut. Wie sehr schließt man ihn da erst ins Herz, wenn man ihn vom ersten Band an begleitet hat?

Fazit: „Sakari lernt, durch Wände zu gehen“ ist ganz sicher keine leichte Lektüre für zwischendurch. Vielmehr ist es ein Buch voller Melancholie und beeindruckendem psychologischen Tiefgang, das sich aber durch den wunderschönen Schreibstil dennoch flüssig lesen lässt. Obwohl kaum Spannung entsteht, versteht es der Autor meisterhaft, den Leser zu fesseln und ihn in seiner Geschichte voller Herz und Seele gefangen zu nehmen. Die Bücher von Jan Costin Wagner sind zwischen all den lauten, actiongeladenen, blutigen Krimis und Thrillern kleine Juwele der Ruhe und Poesie.

Cover © Galiani Berlin (Kiepenheuer & Witsch)

Wertung: 14/15 Feen des frühen Morgens


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