Richard Sennett – Die offene Stadt (Buch)


Richard Sennett - Die offene Stadt (Cover © Hanser Berlin)Wie sieht die Stadt von morgen aus? Die Kernfrage der Stadtplanung und Stadtentwicklung bekommt in Zeiten der fortschreitenden Urbanisierung eine neue Dringlichkeit. Richard Sennett, einer der bedeutendsten noch lebenden Stadtforscher, erkennt im Phänomen Stadt einen fortwährenden Prozess, in dem sich der Mensch zuvorderst an sich selbst abarbeitet. Als Soziologe führt Sennett durch die Ideengeschichte der Städte, die eng mit der der Menschheit verknüpft ist, erläutert anregende Visionen und endet mit einer „Ethik der offenen Stadt“, die von politischer Tragweite ist. Städte müssen als offene Systeme gestaltet werden, die sich am Menschen, seinen Bedürfnissen und Proportionen orientieren. Sennett schafft das im dritten Teil seiner „Homo-faber“-Reihe mit einem erstaunlichen Geschick für das Herunterbrechen von Komplexität, ohne Intellektualität vermissen zu lassen. Sein Motto: Mit Komplexität aktiv umgehen. Die Bescheidenheit eines alten Lehrmeisters hätte sich aber auch gerne im Preis niederschlagen dürfen.

Städte sind Lebensräume für Menschen, doch allzu oft wird vergessen, dass es keine natürlichen Biotope sind, die uns als gegeben gegenüberstehen. Der Mensch produziert sie und kann sie gestalten. Vielleicht liegt diese Hemmschwelle auch darin begründet, dass die Entscheidung über die Form der Stadt in den Händen weniger Auserwählter liegt. Durch hierarchisch organisiertes Expertentum entstehen meist unflexible, in sich abgeschlossene Projekte, die dem dynamischen und komplexen Charakter der Stadt nicht gerecht werden. Deswegen schlägt Richard Sennett vor, an der „Offenen Stadt“ zu arbeiten.

Der mittlerweile 75-jährige Soziologie hat sich auf Stadtthemen spezialisiert, ohne darüber die weite Verzweigung der Gesellschaftswissenschaften zu vernachlässigen. Deswegen sind seine Bücher immer auch kurzweilig geschriebene Diagnosen der gesellschaftlichen Verhältnisse: In „Fleisch und Stein“ analysierte Sennett 1995 beispielsweise öffentlichkeitswirksam das Verhältnis des menschlichen Körpers zu der ihn umgebenden gebauten Umwelt und zeigte, wie sie auf einander einwirken. Aktuell hat sich der Stadtforscher in sein „Homo-faber“-Projekt vertieft, das mit „Die offene Stadt“ wohl ihren Abschluss als Trilogie findet.

Homo faber, der schöpferische Mensch, der in der Lage ist, Einfluss auf seine Umwelt zu nehmen, ist für Sennett das passende philosophische Menschenbild für unsere Zeit. Über „Handwerk“ und „Zusammenarbeit“ findet Sennett dafür nun zur Stadt und stellt heraus, dass wir die Verantwortung dafür tragen, sie so zu gestalten, dass die Veränderung der Lebensumwelt im Einklang mit dem Konzept der Nachhaltigkeit steht. Die Stadt sollte die natürliche Umwelt nicht belasten, sich aber auch im sozialen Sinne am Menschen orientieren, nicht am Auto oder dem ungebremsten wirtschaftlichen Wachstum. So entwickeln sich selbstgenügsame Städte, die nicht auf Kosten anderer mit Ressourcen aasen.

Sennetts Grundthese für „Die offene Stadt“ beschäftigt sich mit der gebauten Umwelt, der „cité” und der Lebensweise ihrer BürgerInnen, der „ville“. Durch den Verlauf des Buches gleicht Sennett dieses Gedankengerüst wie in einer Vorlesung mit der Planungsrealität ab und deckt auf, warum es nicht ausreicht, nur getrennt über die cité oder die ville nachzudenken. Zu Beginn geht es um durchaus gut gemeinte Vorläufer, die aber nur „wacklige Fundamente“ für die Offene Stadt errichteten. Die grüne Stadt, die sozialistisch geprägte Stadt, die strukturierte Stadt, alle begegneten einem jeweils spezifisch erkannten Mangel, doch sie blieben Masterpläne und waren nicht dafür ausgelegt, dass die Menschen sie anders oder gar nicht nutzen würden.

Nach Kant ist der Mensch „krummes Holz“, das sich zwar mühsam biegen, aber nie begradigen lässt. So müsse nach Sennetts Meinung auch die Stadt gestaltet sein. Sie sollte nicht begrenzen, sondern im Sinne der Systemtheorie als „offenes System“ betrachtet werden, das sich durch Flexibilität gegenüber der fortwährenden Entwicklung und durch Resilienz gegenüber möglichen Bedrohungen auszeichnet. Im kleineren Maßstab hieße das beispielsweise, ein Haus mit mehr Leitungen auszustatten, als es minimal braucht, damit es nicht so schnell veralten kann, im größeren Maßstab flexible Flächen zu planen, um sich an den Klimawandel anzupassen.

Sennett verteufelt die Smart City nicht, aber ihre Technologien müssen offen gestaltet sein, damit den BürgerInnen nicht alles abgenommen wird und sie verdummen. Die aktuell fortschreitende Urbanisierung erfasst aber vor allem den Globalen Süden und lässt Megacities entstehen, die in ihrem ungebremsten Wachstum nach aufholender Stadtentwicklung schreien. Die offene Stadt findet auch hier Antworten: Infrastruktur bereitstellen, sinnvolle Regelungen finden, aber dann einfach machen lassen. Menschen sollten durch das Design der Stadt bewusst und unbewusst dazu eingeladen werden, sich mit ihrer Umgebung auseinanderzusetzen und sie sich anzueignen. Die gebaute Umwelt sollte immer darauf abzielen, zum Austausch einzuladen, egal ob durch clevere Ideen oder irritierende Elemente.

Am wichtigsten ist aber, Städte wieder lebendig zu machen. Nur wenn Menschen ihre Umwelt wahrnehmen, sich mit ihr auseinandersetzen und sie auf unterschiedliche Weise nutzen, entstehen Berührungspunkte, die das Nebeneinanderleben erschweren. Hierbei darf es auch gerne zum Konflikt kommen, denn aus dem Einigungsprozess über die Nutzung von Räumen kann Solidarität entstehen. Hier hätte Sennett noch mehr auf die Optionen eingehen können, die jedem Menschen in seinem eigenen Leben offenstehen, um zum mündigen Bürger „von unten“ zu werden. Auch andere spannende Ideen aus dem aktuellen Entwicklungsdiskurs lässt Sennett außen vor, beispielsweise das Systemdenken im Bezug auf Nachhaltigkeit, allerdings erhebt er auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Der Blick auf das große Konstrukt der Stadtentwicklung bietet genügend anregende Ansichten, die einen anfixen, sich mit Stadtentwicklung auseinanderzusetzen, auch weil „Die offene Stadt“ bei aller auf uns wartenden Anstrengung ein optimistisches Buch geworden ist. Deswegen ist Sennetts Werk als politisch zu verstehen, aber auch, weil es mit einem Kapitel über „Ethik einer Stadt“ endet. Gegen Offenheit wehren sich heute gerade die rechten Kräfte mit erstarkender Stimme, was Sennett deswegen nicht gutheißt, weil er die Fehler der geschlossenen (Master-)Planung als vermeidbar ansieht.

Wer sein eigenes Unvermögen eingesteht, erkennt schnell, dass man allein nicht sehr weit kommt. Sennett selbst übt sich in Demut, blickt nach einem Schlaganfall auf sein Leben zurück und formuliert zum Beispiel den eigenen Mangel, dass er nicht mehr in der Praxis tätig war. Damit lebt er eine Bescheidenheit vor, die die Ethik einer Stadt ausmacht. Nur mit einer gesunden Fehlerkultur sowie dem Willen zur echten Kooperation und Koproduktion können gute Städte gebaut werden – und kann eine gesunde Gesellschaft entstehen. Der Experte darf gerne seine Rolle wahrnehmen, doch wenn es um die eigene Lebensumwelt geht, sind im Stadtentwicklungsprozess alle Akteure als Experten zu betrachten, deren Meinungen nicht abgetan werden sollten. Es ist nur eine Frage der Technik, welche Knöpfe gedrückt werden müssen, um einen guten Beteiligungsprozess zu generieren.

Da hilft keine Alibi-Partizipation, bei der die Beteiligten etwas über im Großen und Ganzen schon vollendete Tatsachen meckern dürfen. Die BürgerInnen müssen ernstgenommen und zum richtigen Zeitpunkt alleingelassen werden, damit wertvolle Partizipation gelingen kann. Gute Stadtentwicklung orientiert sich im Bau der cité an den Anforderungen der ville, sprich: Form folgt nicht mehr stur der Funktion, sondern den Anforderungen, die das menschliche Leben stellt. Hochhäuser, deren Dachkante von der Straße aus nicht zu erkennen sind, fördern Orientierungslosigkeit, Straßen, die für Autos gemacht sind, verhindern flüssiges Vorankommen und fressen wertvollen Platz.

Stattdessen sollte die Stadt der Größe, Geschwindigkeit und Lebensweise der Menschen entsprechen, sonst droht Entfremdung mit großen, hässlichen und an einem vorbeirasenden Strukturen. Aber auch soziale Prozesse und Praktiken sowie die Funktionsweise der menschlichen Psyche sollten Berücksichtigung finden, wenn es um die Gestaltung des Lebensraums Stadt geht. Ob dieser Aufgabe ist Bescheidenheit geboten, weil die damit einhergehende Schwierigkeit, der Umfang und die Komplexität als solche Anerkennung finden müssen. Das Konzept der offenen Stadt entlastet zudem vom Ballast, schon im Vorhinein passgenaue Lösungen parat haben zu müssen. Sennett nennt aber auch genügend clevere Beispiele, auf die sich aufbauen lässt.

Selten sind es seine eigenen Ideen, vielmehr praktiziert der Soziologe eine Wurzelschau, die es braucht, um aus den Gedanken und Fehlern der Vorgänger zu lernen. Kant ist dabei bei weitem nicht die einzige ideengeschichtliche Figur, die Sennett sich aneignet, doch er holt alle Konzepte gedanklich in die Gegenwart, egal, ob sie es aus Philosophie, Soziologie, Romanen oder Politik stammen. Die Beleuchtung der damaligen Anforderungen an Städte und die Einfärbung durch Ideologien lässt die Gegenwart hervorkommen. Nur aus dem Dreiklang aus kritischer Vergangenheitsbewusstsein, Gegenwartsanalyse und Zukunftsgestaltung kann Heimat entstehen. Eine weitere wichtige Einsicht, die vom rechten Spektrum gerne übersehen wird. So entsteht nämlich eine Stadt, die Diversität anerkennt und sogar schätzt, um das Zusammenleben zu verbessern. Sennett wird zum Fürsprecher offener Gesellschaften und führt bravourös vor, wie man auf Grundlage von nüchternen Argumenten die praktischen Vorteile progressiver Ideen aufzeigen kann.

Leider aber wird der Preis einige potenzielle LeserInnen verschrecken. Warum ein Buch, das ein komplexes und kaum in den kollektiven Wissensfundus eingegangenes Thema wie Stadtentwicklung auf solch anschauliche, kurzweilige, aber trotzdem auf hohem Niveau vorgetragene Weise zu vermitteln weiß und sich überdies unentwegt die Wichtigkeit vorbetet, dass jeder Mensch sich mit seiner Stadt auseinandersetzen sollte, über 30€ kosten muss, erschließt sich nicht ganz. Dies scheint aber ein generelles Problem von Fachliteratur zu sein, die in Zukunft in Betracht ziehen sollte, die Preise an die Zielgruppen anzupassen. „Die offene Stadt“ darf auch gerne im Taschenbuchformat angeboten, damit Sennetts Blick auf die und Erklärung der Wichtigkeit von Stadtentwicklung nicht an den ohnehin Überzeugten hängen bleibt.

Fazit: „Die offene Stadt“ ist kein innovatives, aber trotzdem wichtiges Buch zum unterschätzten Thema Stadtentwicklung. Das Konstrukt „Stadt” ist ein fortlaufender Prozess, in den auch gerade diejenigen verstärkt eingebunden werden sollten, die in ihr leben. Richard Sennett pflegt einen progressiven Umgang mit seiner Profession als Soziologe und findet in alten und neuen Theorien aus den verschiedensten Fachbereichen spannende Ansätze und Beispiele für die offene Stadt. Da die Stadt Ausdruck des Menschseins ist und nicht bloß gebaute Umwelt, ist die abschließende „Ethik für die Stadt“ gleichsam ein argumentativ gestütztes Statement für eine offene Gesellschaft. Nur in einem offenen System Stadt, das gebaute Umwelt und Lebensweisen zusammendenkt und das bereit ist, Komplexität zu begegnen, kann eine solidarische und funktionierende Gesellschaft gedeihen.

Cover © Hanser Berlin

  • Autor: Richard Sennett
  • Titel: Die Offene Stadt
  • Originaltitel: Open City
  • Übersetzer: Michael Bischoff
  • Verlag: Hanser Berlin
  • Erschienen: 09/2018
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 400
  • ISBN: 978-3-446-25859-4
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite

Wertung: 14/15 dpt


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