Das Gelände (Dokumentation, DVD)


Unscheinbarkeit. Ein Wort, mit dem niemand und nichts bedacht werden will. Es ist weniger Beschreibung als Wertung, verbunden mit wenig schmeichelhaften Begriffen wie Konturlosigkeit, Blässe, Langeweile. Ein sprachliches Artefakt einer Gesellschaftsform, in der die breite Mitte wenig Wertschätzung erfährt. Daher passt „Unscheinbarkeit“ perfekt zu „Das Gelände“, ein Film, der genau an diese Metaebene anknüpft und deswegen bezeichnenderweise gerne übersehen wird. Dabei verbirgt sich hinter der schlichten Fassade ein ambitioniertes Experiment zur Stadterfahrung am Fallbeispiel eines besonderen Ortes in Berlin im Laufe von bewegten Zeiten.

Zugegebenermaßen liest sich das Exposé zu „Das Gelände“ nicht sonderlich spannungsgeladen: Mann filmt Gelände. Martin Gressmann filmt mit einer 35 mm-Kamera ein Stück Stadt inmitten von Berlin. Unterlegt wird das Ganze von Ausschnitten aus Interviews (geführt zwischen 1993 und 2010) aus dem Off mit unterschiedlichen Bezügen zu diesem Gelände, mehr hat die Dokumentation nicht zu bieten. Nun liegt die Annahme nah, dass es sich um einen faden, vielleicht prätentiösen Experimentalfilm mit bemühtem Kunstanspruch handeln könnte. Doch was Regisseur Gressmann schafft, ist eine filmische Studie, die sich nicht hinter ihrem minimalistischen Anspruch versteckt.

Über den gar wenig unspektakulären Zeitraum von 27 Jahren begleitet der Kameramann (für diverse deutsche TV- und Filmproduktionen wie „Hinter Gittern“ und „Franz“) und Regisseur die Entwicklung einer Brachfläche in Berlin, die ihn 1986 endgültig in ihren Bann zog. In diesem Jahr beginnt er im Osten der geteilten Stadt dieses verwahrloste Areal an der „verbotenen“ Wilhelmstraße abzufilmen, erschließt sich die Fläche mit dem Blick durch die Kamera und entdeckt zwischen den abgeladenen Schuttbergen, den Bäumen eines kleinen Hains und einem aufgegebenen Verkehrsübungsplatz Spuren von Aneignung wie von vergangenen Tagen.

Zu dieser Zeit begann eine für ostdeutsche Verhältnisse untypische Initiative der Bürgerschaft, in tiefere Erdschichten vorzudringen, um das freizulegen, was Zeit und Politik zu verdecken begannen. Sie stoßen auf die Überreste eines alten Gestapo-Gebäudes, in das zwischen 1933 und 1945 auch ein Hausgefängnis installiert war. Nicht so geheim, wie zu vermuten ist, sondern mitten in der Stadt wurde eingesperrt, gefoltert und gemordet, ein Einschüchterungsmanöver mit Strahlkraft. In noch tiefer liegenden Schichten am Rand der städtischen Erdkruste, werden später noch die Überreste des Prinz-Albrecht-Palais aus dem 18. und 19. Jahrhundert entdeckt, der seinerzeit bereits von den Nazis überbaut worden war.

Trotz der nun bestimmten Geschichtsträchtigkeit des Ortes lassen sich die Bürger*innen nicht von der Aneignung des Ortes abbringen. Zwar werden keine Tannen mehr als Weihnachtsbäume für den Eigenbedarf gefällt, Kinder haben die Freifläche mit ihren Hügeln jedoch als ideale Rodelbahn identifiziert. Schlagartig ändern sollte sich die Situation mit dem Mauerfall. Das Gelände befand sich direkt an der Mauer, die nun einer neuen Straße weicht. Ähnlich schnell ändert sich der Blick auf die Brachfläche, der fortan durch die kapitalistische Brille der neuen Bundeshauptstadt fällt. Erhalten bleiben, soviel wird schnell klar, kann die Brache in ihrer Form nicht, das wäre bei diesem nun als „Filetstück“ bewertetes Grundstück nichts anders als „Luxus“, aber immerhin kann ihre Bebauung verhindert werden.

Als Kompromiss soll die Geschichte durch eine Aufarbeitung des Geländes zu einer Gedenkstätte bewahrt werden. Mitten im neuen Regierungsviertel zwischen Ministerien, dem Abgeordnetenhaus und dem Gropius-Bau stehen als Anlaufstätten des Tourismus ein Stück Berliner Mauer und die als „Topographie des Terrors“ mittlerweile etablierte Stelle zur Verfügung. 2010 wird auf dem Gelände die Erinnerungsstätte eröffnet, die das Produkt jahrzehntelanger Arbeit, Provisorien und Kompromisse ist, die einige Millionen Mark und Euro verschlungen haben. Das Ergebnis ist ein von Schotter umgebener, grauer Klotz, der der Geschichte und ihren Opfern ein höchstens nüchternes Denkmal setzt.

„Das Gelände“ hingegen beweist, wie die Aufbereitung der Geschichte sehr viel anschaulicher gelingen kann. Martin Gressmanns Versuch, das Unfassbare einzufangen, scheitert, aber darin besteht die Stärke seiner Herangehensweise. Seine eigenen Gedanken verbalisierend versucht sich der Filmemacher einen Reim darauf zu machen, warum ihn dieses Gelände so fasziniert und stellt dabei fallbeispielhaft die Kernfrage der Urbanistik: Was macht die Stadt zur Stadt? Dementsprechend ist aus „Das Gelände“ eine interdisziplinäre Annäherung an das Phänomen Stadt als Produkt von Raum, Zeit und menschlichem, sinnhaftem Handeln geworden.

Objektiv betrachtet (soweit das überhaupt möglich ist) kann die vormalig Brache über Koordinaten beschrieben werden, über ihre Größe, Beschaffenheit etc. Sie ist jedoch nur zu verstehen, wenn sie als soziales Produkt begriffen wird, als Summe des Handels von Menschen, die sich auf den Ort beziehen, die auf ihn einwirken, ihn schaffen. Verschiedene Stimmen kommen zu Wort, die aus ihren Professionen als Politiker*innen, Biolog*innen und Bürger*innen heraus ihre Sicht auf das Gelände schildern und ihn damit qualifizieren. Aus Archäologie, Geschichte, Anthropologie, Geographie, Geologie, Soziologie, Ökonomie, Kulturwissenschaft, Narratologie, all diesen Forschungsbereichen und ihren aus Theorien bestehenden Weltanschauungen spannt sich ein dichtes Netz an Beschreibungen über den Ort, der ihn de-, re- und konstruiert, was ihn schließlich ausmacht. Daraus entsteht eine Schulung des Blicks beim Zuschauenden, der eigentlich banale Phänomene wie den Auftritt eines Souvenirhändlers mit Migrationshintergrund fortan mit deutenden Augen erblickt.

Dabei ist „Das Gelände“ eine Dokumentation im wahrsten Sinne, dokumentiert sie doch eine Zeit, einen Raum und ihre Einbettung in den historischen Kontext. Nüchtern, aber doch mit linker Schlagseite, wird über die Grenzen im Verhältnis zwischen Theorie und Praxis berichtet, über die gescheiterten Bauprojekte, aber auch über unverhoffte Einsichten aus der Realität, auf die die Wissenschaft alleine nicht gekommen wäre. Anhand des Geländes lässt sich zudem die Geschichte Deutschlands und der Einfluss der darin bestehenden Umbrüche ablesen. Mit jedem neuen System ändert sich die Perspektive auf die Fläche, am Umgang mit dem Artefakt wird die vorherrschende Systemlogik und ihr Einfluss auf das Handeln der in ihr Lebenden sichtbar. Jeder Systemumschwung bringt eine Öffnung des Blicks mit sich, eine neue Perspektive und eine neue Bewertung im Sinne der Verwertungslogik. Stichwort: Bodenpolitik.

Während zuvor die jeweils vorangegangene Epoche vergessen (gemacht) wurde, befindet wir uns nun in einer Zeit, in der im Kampf mit der stetigen Erneuerung der Bewahrung durchaus ein beachtlicher Wert zugestanden wird. Die Erinnerungskultur bekommt in der Mitte Berlins einen Raum zugestanden, der sicherlich nicht so groß wäre, hielte der Tourismus nicht einen gewichtigen Anteil an der dortigen Wirtschaftsleistung. Am Ende ist man als Zuschauender genauso enttäuscht darüber, dass der jetzige Bau auf dem „Topographie des Terrors“-Gelände der Geschichtsträchtigkeit nicht genügend Respekt erweist. Zwischen all den aufgemöbelten Prestigebauten in der unmittelbaren Nachbarschaft bekommt auch das Gelände einen von einem Architekturwettbewerb als herausstechend bewerteten Überbau übergestülpt. Vielleicht ist es aber auch ein Symptom der Moderne: Eine Brache, ein Niemandsland, ein „terrain vague“ darf es nicht geben, die Uneindeutigkeit auszumerzen, liest man bei Zygmunt Bauman, ist ihr unmögliches, weil niemals realisierbares Projekt. Eine Lesart, über die die Entscheidungsträger*innen angesichts des betrachteten Sujets ihrer Ausstellung noch einmal hätten nachdenken sollen, bevor sie über die Diversität symbolisierende Wildheit des Geländes gezähmt haben.

„Das Gelände“ gelingt es, ein Gefühl dafür zu vermitteln, dass hinter einem vermeintlich unscheinbaren Areal wie einer Brachfläche unsichtbare Schichten liegen, die einem Phänomen Komplexität verleihen. Hätte sich Gressmann getraut, der Nazi-Vergangenheit noch etwas zu kürzen, wäre die Allgemeingültigkeit seiner Erkenntnisse noch stärker zur Geltung gekommen. Nach und nach setzt sich durch den Film ein Bild zusammen, das das Phänomen Stadt nicht in seinem Kern abbilden kann, es gar nicht erst versucht, indem es soziale Zusammenhänge durch erklärende Grafiken zu veranschaulichen versucht. Dennoch kommt es dem Konzept ein wenig näherkommt, weil zwischen den Zeilen und den Bildern Ideen umrissen werden, die auf etwas Wahrhaftiges hinweisen.

Trotz der Auszeichnung als „Bester Dokumentarfilm“ bei den German Film Critics Awards im Jahr 2016 ist „Das Gelände“ ein wenig in Vergessenheit geraten. Erst weitere drei Jahre später und damit fünf Jahre nach der Uraufführung erscheint die Doku nun auf DVD und selbst dem in Geduld geübten Regisseur wird das ein „Endlich“ entlocken. Der Umgang mit dem Film ist zugleich eine weitere Ebene in der Bewertung von „Unscheinbarkeit“: Kein Kassenschlager, unaufgeregt und schon vergessen, weil nicht verwertbar. Vergessen werden dabei meist die Qualitäten des Understatements und der Ruhe, mit der ein Projekt viel eher die Vorstellungen der künstlerischen Werthaftigkeit, der Wahrhaftigkeit und Erkenntnis zu erfüllen vermag. Glücklicherweise hat good!movies dem Projekt angenommen und ermöglicht, dass ein außergewöhnliches Experiment eine größere Zuschauerschaft verschafft bekommt. In diesem Sinne bekommt „Das Gelände“ noch eine weitere Metaebene hinzugefügt: Vergangenheit und Gegenwart, die Zeit scheint in dem Film eingekapselt zu sein, die Zeiten bewegen zeitgleich Trabbi und Segway am Ende der Doku und können auf diese Weise wie in keinem anderen Medium betrachtet werden.

Fazit: Martin Gressmanns Projekt wird gerne übersehen, weil es nicht nach Aufmerksamkeit heischt. Darin liegt eine Verbindung zu seinem Sujet, der Umgang mit Erinnerung in Zeiten der Ökonomie der Aufmerksamkeit und die Verwertung von Boden. „Das Gelände“ zeichnet ein nüchternes, unaufgeregtes Bild einer Brachfläche, dessen Nutzung und Bedeutung sich im Laufe der Zeit unter verschiedenen Verhältnissen verändert, je nachdem, welches Gesellschaftssystem gerade vorherrschte. Am Fallbeispiel des Geländes inmitten Berlins unternimmt der „Laie“ Gressmann aus sich heraus das Projekt, sich ein Stück Stadt begreifbar zu machen und schafft ein interdisziplinäres Forschungsvorhaben zum Phänomen Stadt im Filmformat. Die Dokumentation im wahrsten Sinne weist weit über das Gelände hinaus, vermittelt durch Aufnahmen über den Zeitraum von 27 Jahren ein Gefühl von Komplexität anhand des Artefakts Raum, verweist auf deutsche Geschichte genauso wie auf Systemfragen und schult den Zuschauenden in Sachen Stadterfahrung. Ein ehrgeiziges, ambitioniertes und in hohem Maße gelungenes Experiment, das auch mal scheitert, aber auch deswegen ein erstaunliches Statement zur Unscheinbarkeit setzt.

Szenebilder und Cover © good!movies

  • Titel: Das Gelände
  • Produktionsland und -jahr: D, 2013
  • Genre:
    Dokumentation
  • Erschienen: 30.08.2019
  • Label: good!movies
  • Spielzeit:
    ca. 93 Minuten auf 1 DVD
  • Darsteller:
    u.a.
    Martin Gressmann, Andreas Mücke-Niesytka, Bettina Böhler, Barbara Wrangell, Volker Gläser
  • Regie: Martin Gressmann
  • Drehbuch: Martin Gressmann
  • Kamera: Martin Gressmann, Volker Gläser, Hanno Lentz, Ralph Netzer
  • Schnitt: Bettina Böhler
  • Musik: Brynmor Jones
  • Extras: Booklet
  • Technische Details (DVD)
    Video:
    16:9 – 1.77:1
    Sprachen/Ton
    :
    D
    Untertitel:
    GB
  • FSK: 0
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite

Wertung: 14/15 dpt


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