Die Produktivität des Autors ist ja durchaus beeindruckend, denn alleine im noch jungen aktuellen Jahrzehnt hat Andreas Eschbach inklusive “Todesengel” bereits fünf – wenn man die “Herr aller Dinge”-Erweiterung “Das schwarze Messer” mitzählt, gar sechs Veröffentlichngen auf den Markt gebracht. Man könnte daher befürchten, dass der heute in Frankreich residierende Schriftsteller so langsam Fließbandware produziert, doch sein Quell an Ideen scheint nicht versiegen zu wollen
– eher weiß Eschbach immer wieder seine Leser zu überraschen. Ganz ohne Hi-Tech kommt zwar auch sein neuestes Werk nicht aus, doch “Todesengel” spielt wieder deutlich klarer in der Realität.
Als sich der betagte Erich Sassbeck Richtung U-Bahn-Haltestelle nähert, wird er Zeuge, wie Jugendliche ihre unbändigen negativen Energien freisetzen, indem sie Vandalismus begehen und die Haltestelle zu demolieren versuchen. Die grundsätzlich richtige Entscheidung, nämlich, die jungen Männer von der sinnlosen Zerstörung von Gemeineigentum abzuhalten, erweist sich als die falscheste von allen, denn nun sind nicht mehr die Sitzbänke und Plexiglasscheiben das Objekt der destruktiven Begierde, sondern Sassbeck selbst. In ihrem Gewaltrausch, der ihnen offenbar ein Glücksgefühl beschert, prügeln die beiden den alten Mann beinahe zu Tode – bis sich auf einmal von fremder Hand Schüsse lösen und die Jugendlichen jene sind, die ihr Leben lassen müssen. Sassbeck überlebt und ist sich sicher, dass es ein Wunder war, das ihn gerettet hat – denn er sah einen leuchtend weißen Engel, kurz bevor die Kugeln auf ihr Ziel zurasten.
Dennoch hält die Polizei Sassbecks Schilderungen für Unsinn und verdächtigen den Ostdeutschen des Notwehrexzesses, denn die Jugendlichen wurden mit einer Pistole der Marke Makarov erschossen – genau ein solch altes Modell, das Sassbeck noch aus seinen Dienstjahren besitzt. Bald verschärfen sich die Verdächtigungen gegen den Senioren, denn man schließt es nicht aus, dass er eventuell auch Selbstjustiz geübt haben könnte.
Doch es häufen sich ähnliche Fälle, in denen ein Unbekannter, diese schillernde, gleißend helle Gestalt, Angreifer hinrichtet, welche Nichtsahnenden Gewalt antun. Ingo Praise, ein engagierter Journalist, deckt bald auf, dass es tatsächlich jemanden gibt, der in der Stadt als Racheengel unterwegs ist, um jugendliche Kriminelle auszuschalten und die Unschuldigen zu retten. Das Thema gerät in den Fokus der Medien, und durch die Berichterstattung Praises genießt der mysteriöse Racheengel innerhalb kürzester Zeit den Status eines Stars und wird von der Masse zum Kult erhoben.
Bei aller aufkommender Sympathie für den bekannten Unbekannten stellt sich die Frage: Ist Selbstjustiz etwas Gutes, etwas Böses, etwas unabwendbares in Notsituationen? Ist es ein Verbrechen, wenn durch Mord Mord verhindert wird? Trifft es wirklich die Richtigen? Aus verschiedenen Perspektiven und in parallel verlaufenden Handlungssträngen erzählt, werden die Themen Selbstjustiz und Zivilcourage aus verschiedenen Aspekten (rechtlich, philosophisch, ethisch…) beleuchtet, und so wird auch der Leser (respektive Hörer) in eine gedankliche Zwickmühle bugsiert, in welcher er sich fragen muss, was denn nun richtig ist. Gerecht ist. Gerechtfertigt ist. Und oftmals muss man sich als Beiwohner dieses Thrillers bis ins Mark erschrocken dabei erwischt fühlen, wie man tatsächlich mit dem Racheengel mitfiebert, denn eigentlich ist es ungeachtet der festgeschriebenen Gesetze manchmal doch “gut”, wenn ein “guter Böser” die “Bösen” ausschaltet. Fight fire with fire. Oder? Oder nicht? Oder doch? Ist es moralisch vertretbar? Ist es ethisch korrekt? Ist ein rettender Mord besser als ein destruktiver Mord? Wäre es gerechter gewesen, wenn Erich Sassbeck zu Tode geprügelt worden wäre und die beiden Straftäter womöglich gerade mal einer Bewährungsstrafe entgegengesehen hätten? Soll man als Unbeteiligter eingreifen? Und wenn ja, wie? Oder ist es doch besser, wegzusehen oder zumindest nicht zu intervenieren?
Es wird ebenso die Frage aufgeworfen, wie es sich mit den Opfern verhält, denn während diese oftmals mit zunehmender Zeit nur noch die Statistenrolle einnehmen, geraten die Straftäter in das Visier der Aufmerksamkeit, es wird über Strafen verhandelt, über Täterschutz, über Resozialisierung, um als “einst” Krimineller wieder ein normal funktionierender Teil der Gesellschaft zu werden – sozusagen wird ein Mörder, Totschläger oder Gewalttäter – zur Not durch psychiatrische Behandlung – ein geputztes und glattgefeiltes Zahnrad, das wieder eingesetzt wird, je schneller, desto besser. Letztendlich sind es im medialen Mainstream nicht die Gestorbenen und Geschädigten, die im Gedächtnis der Menschheit hängen bleiben, sondern die, die das Leben derjenigen ausgelöscht oder für immer zerstört haben. Ihnen gehört die Bühne – bis auf vereinzelte Gegenbeispiele in Form von Sendungen wie Stern TV, in welchen auf teilweise ekelhaft plakative und pseudobetroffene Art und Weise das (noch lebende) Opfer oder die (aus dem Umkreis des Opfers stammenden) Hinterbliebenen dem sensationslüsternen, Chips mampfenden Zuschauer auf dem abgewetzten Sofa auf dem Präsentierteller kredenzt werden. Inklusive Telefonvoting für 50 Cent pro SMS und Werbeunterbrechung.
Auch die Statistik hinsichtlich Jugendkriminalität wird aus verschiedenen Blickwinkeln in Frage gestellt, zum Beispiel anhand des demographischen Wandels einerseits, andererseits anhand der multimedialen Präsenz der Presse, die das Problem durch extreme Einzelfälle womöglich dramatisiert. Doch nie geht “Todesengel” so weit, dass der Leser unterschwellig eine Meinung aufgedrückt bekommt.
Sicherlich könnte man Eschbach Kalkül vorwerfen, da, wenngleich das Szenario bestenfalls ein ähnliches ist, Assoziationen zum Fall Dominik Brunner geweckt werden, doch der Autor beging nicht den Fehler, eine einseitige plakative Story mit sensationsjournalistischem Potential zusammenzuschustern oder gar Selbstjustiz zu verherrlichen, sondern agierte bei der Entstehung dieses Thrillers mit einer beeindruckenden Vielschichtigkeit, wog die Möglichkeiten und das Für und Wider souverän ab und überlässt es letztendlich dem Leser selbst, wie der mit dem Thema in seiner Gesamtheit umgeht.
Den Figuren haucht der Schriftsteller sehr viel Individualität und Diversität ein, und die Art und Weise, wie er sie beschreibt, wirkt beinahe plastisch, sodass man beinahe einen fertigen Film vor dem inneren Auge sieht. Auch im Hinblick auf die einzelnen Leben der jeweiligen Personen gelingt es Eschbach einmal mehr hervorragend, ihnen unterschiedlichste zusätzliche Facetten auf den Leib zu schreiben und so die Gefahr der Eindimensionalität zu umkurven.
Wie bereits bei “Herr aller Dinge” wurde Matthias Koeberlin als Sprecher für die Hörbuchausgabe auserwählt, was eine gute Entscheidung war, denn die Kombination funktioniert auch hier perfekt. Im Gegensatz zu genanntem Hörbuch ist die Vortragsweise bei “Todesengel” allerdings weniger ruhig, sondern äußerst dynamisch und hinsichtlich der Klangfarben sehr variabel – man kann hierdurch sehr gut zwischen den zahlreichen Charakteren unterscheiden, wodurch sämtliche Ansätze von Verwirrung erst gar nicht aufkeimen können, was bei Büchern mit viel wörtlicher Rede durchaus passieren kann. Der rotzige Teenager tönt aus Koeberlins Mund genau so glaubwürdig wie der in sich gekehrte Altersgenosse, der ältere Erich Sassbeck klingt ebenso echt wie Ingo Praise, und sowohl die weiblichen Charaktere als auch die anderen (Co-)ProtagonistInnen und Nebenfiguren wirken authentisch – der erfahrene Sprecher, der auch mit Schauspielerei seine Brötchen verdient, vermeidet das Overacting bravourös und gibt jeder Figur genau das, was sie benötigt.
Bis auf die etwas inkonsequent eingebaute Hi-Tech-Komponente, bei der die Befolgung des Sprichworts “Sekt oder Selters” sinnvoll gewesen wäre – ganz gleich in welche Richtung – sowie das ein oder andere etwas zu konstruiert erscheinende Element, speziell gegen Ende, erleben wir hier ein fast perfektes Hörbuch mit einer Story, die mehr ist als nur ein Thriller. Sie beschäftigt den Hörer noch tagelang, lässt ihn vieles überdenken und aus den Augen zahlreicher Anderer neu sehen, spielt mit seiner empathischen Ader des Zuhörers und verlangt ihm dabei einiges ab, indem Eschbach ihn subtil in praktisch jede Rolle schlüpfen lässt, die sich ihm anbietet. “Todesengel” ist mehr als nur (Audio-)Lektüre, es ist obendrein ein beinahe philosophisches und immens aufwühlendes Etwas.
Cover © Lübbe Audio
- Autor: Andreas Eschbach
- Titel: Todesengel
- Label: Lübbe Audio
- Erschienen: 20.09.2013
- Sprecher: Matthias Koeberlin
- Spielzeit: 552 Minuten auf 8 CDs
- ISBN: 978-3-7857-4888-6
- Sonstige Informationen:
Gekürzte Lesung
Produktseite bei Lübbe
Wertung: 13/15 dpt
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