Loyle Carner – Yesterday’s Gone (Musik-CD)


Loyle Carner - Yesterdays Gone (Cover (c) Caroline)Unfassbar lässige und zugleich kunstvoll verschachtelte HipHop-Poesie, die selbst Sprechgesangsmuffel faszinieren wird. Oder einfach: Herausragende Musik.

Im vergangenen Herbst traf ich Sting zum Interview für ein Magazin, für das ich mal gearbeitet habe. Meine Frau (und mich) konnte er – wie viele andere – durch seine Arbeit im Laufe der Jahrzehnte sogar zur Jazzimprovisation oder zur barocken Lautenmusik führen. Wenn es also überhaupt jemanden gäbe, der meine HipHop-hassende Frau für Sprechgesang begeistern könne, dann er. Ob dies jemals zu hoffen oder zu fürchten sei. Seine Antwort darauf, die bislang nirgendwo veröffentlicht wurde, lautete: »Die meisten Spielarten von HipHop respektiere ich in der Tat kaum. Für meine Begriffe ist das ein niveauloses Schauspiel, das für weiße Mittelklasse-Kids in den Vorstädten designt wird. Aber dann höre ich sogar in dem Bereich etwas, das mich wirklich bis ins Mark trifft, und zwar letztes Jahr bei den Grammys. Kendrick Lamar. Das ist sehr, sehr gut. Textlich, theatralisch, thematisch. Da ist etwas Wichtiges passiert. Generell neige ich dazu, Musik überhaupt nicht nach Genres oder Gattungen zu sortieren. Es gibt gute Musik und schlechte Musik. Kendrick Lamars gehört zur herausragend guten.« So Sting im Herbst 2016. Ich wette: Träfe man ihn heute erneut, würde er das Gleiche über den jungen Briten Loyle Carner sagen. Oder sogar noch mehr Schwärmen. „Yesterday’s Gone“ ist ein Sensationsdebüt, ein Meisterwerk ohne Wenn und Aber, die pure Fusion aus Liebe zur Musik, Liebe zur Sprache und Liebe zur Gemeinschaft – in diesem Fall weder Gang noch simulierter Clan, sondern Familie, Freunde und Nachbarn. Da Loyle Carner an Dyslexie leidet, hat er sich den Umgang mit der Sprache klanglich beigebracht … und dabei anscheinend von Dylan Thomas bis Nas von den Besten gelernt. Letzterer nahm ihn nicht ohne Grund mit auf Tournee. Englands beste Wortartistin Kate Tempest, die aus dem gleichen Viertel stammt, tritt als Gast auf dem Album auf. Wie Carners Verse über die stilvoll gestalteten Klangteppiche aus Smooth Jazz, knarzigen Bässen, tarantinoesken Soulsamples und A Tribe Called Quest-artigen Rhythmen fließt, ist atemberaubend und beruhigend zugleich. Er ist bereits in jungen Jahren ein fesselnder Erzähler und zugleich neuer amtierender Weltmeister des Halbreims, ein Lionel Messi der exzessiven Assonanz. Wer also wenig bis nichts mit HipHop anfangen kann, dafür aber ein Ohr und ein Herz für aufrichtige und grenzgeniale Kunstfertigkeit hat, wird in diesem britischen Lyrik-Feuerwerk seine Einstiegsdroge finden. Sollte Sting doch jemals HipHop in seine Musik einfließen lassen (wie es sein Saxophonist Branford Marsalis in den 90ern mit Buckshot LeFonque vormachte) ist Kendrick Lamar hiermit wahrscheinlich aus dem Spiel: Das Telefon würde bei Loyle Carner klingeln.  

Cover © Caroline/Universal

Wertung: 14/15 dpt


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