„Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ So sagte es Franz Kafka. Von ihm stammt außerdem die wenig kompromissbereite Aussage: „Alles, was nicht Literatur ist, langweilt mich.“ Sicher ist somit: Sven Amtsbergs Debütroman würde das Prager Genie nicht langweilen.
Im Falle von Sven Amtsberg von einem „Debüt“ zu schreiben, fühlt sich falsch an. Seit den Neunzigerjahren besticht der mit einem beeindruckenden Bass in der Vorlesestimme ausgestattete Autor durch konzentrierte Kärnerarbeit an der deutschen Literatur. Zur Jahrtausendwende gründete er mit anderen Stammspielern der nordischen Lesebühnenszene den Macht e.V., auf dessen Arbeit auch das „Hamburger Dogma“ zurückgeht – ein Manifest zur radikalen Entschlackung der Sprache. Es war damals, als wäre der Prager Kreis wiedergeboren, nur dass Max Brod, Felix Weltsch, Oskar Baum und der fragile Franz nun an der Elbe lebten und zur Jeans hin und wieder Trainingsjacke trugen. Aus dieser wie aus dem Dogma wuchs Amtsberg zügig wieder hinaus und entwickelte in Bänden wie „Das Mädchenbuch“ bei Rowohlt oder „Paranormale Phänomene“ bei Metrolit einen vollkommen eigenen Sound in Kurzgeschichtenform, der lakonischen Humor, absurdes Geschehen und kristallklare Sprache miteinander verband. Einen ganzen Roman hat er in all den Jahren allerdings in der Tat nicht geschrieben. Nun ist er da, und er wird auf jeden einen unaussprechlichen Sog ausüben, der das Numinose und Symbolträchtige liebt, ohne dabei von prätentiösen Schachtelsätzen oder einem Setting im alltagsfernen Zauberberg-Milieu belästigt zu werden.
Amtsbergs Protagonist Jesse betreibt eine Kneipe im Supermarkt „Superbuhei“; eine schmale, stinkende, in den Eingangsbereich der Einkaufshalle hinein gebaute Kaschemme. Derlei ist heute kaum noch vorstellbar, existiert aber durchaus und bietet den „normalen“ Kunden tatsächlich schon am frühen Morgen das würdelose und trübselige Bild nervös herumtippelnder Alkoholiker, die darauf warten, dass ihr Stammwirt die Türe aufschließt, damit sie ihren immergleichen Tagesablauf wieder und wieder von vorne beginnen können. Jesse selber hat einen schonungslosen Blick auf seine Gäste; er wiederholt auf schreckliche Weise das Leben seines Vaters, der es als „Elvis von Rahlstedt“ nicht über einen blinkenden Imbiss auf dem Parkplatz hinausgeschafft hat. Seine Mutter verließ den Vater damals, weil einfach „nichts passierte“, um am Ende der Straße bei einem Schauspieler aus einer Vorabendserie einzuziehen, bei dem ebenfalls nichts passierte. Jesse bleibt bei seiner Freundin Mona, der Kassiererin aus dem „Superbuhei“, die auf viele Arten vorwurfsvoll rauchen kann und über die er schreibt: „Es scheint, als lasse die Sprache keinen Gefühlszustand zu, der zwischen mögen und lieben liegt, und doch glaube ich, dass mein Gefühl für Mona sich die meiste Zeit eben genau in diesem Bereich bewegt.“ Er betrügt sie beiläufig mit einer Manuela, die nur in einer Szene auftaucht und von der man sich nach der Lektüre fragen kann, ob sie überhaupt jemals existiert hat. Man fragt sich das nahezu von allem, was Jesse dank des perfiden, unzuverlässigen Ich-Erzählers zu erleben behauptet. Unmöglich, den Plot dieses Romans zu erläutern, ohne ihm seine sich Schritt für Schritt entfaltende Kraft zu nehmen. Es muss reichen, sich öffentlich zu fragen, ob trotz des Lokalbezugs zu Hannover-Langenhagen der Namensgeber der Kneipe und womögliche Brieffreund Jesses tatsächlich Klaus Meine sein musste oder dieses Motiv auch mit jeder anderen Band funktioniert hätte. Andererseits machen sich die Songtitel als Überschriften der Kapitel inhaltlich sehr gut und man mag sich kaum eine bessere Inszenierung von Hoffnungslosigkeit vorzustellen als eine Kneipe voller Alkoholiker, in der jeden Tag ausschließlich die Scorpions laufen, dies aber nur begrenzt auf Zimmerlautstärke, um die Kunden des Supermarkts nicht zu stören.
„Superbuhei“ ist eine inhaltlich depressive Meditation über das gebremste Leben, die formal so viel hermacht, dass sie in ihrem gleichnishaften Grau die Laune jedes Menschen hebt, dem Literatur wichtig ist. Ein „Pageturner“ für Freunde des ganz Anderen, des Abseitigen, des Außergewöhnlichen. David Lynch in der norddeutschen Provinz. Chuck Palahniuk ohne gesamtgesellschaftlichen Blick. Und eben: Franz Kafka im Hier und Jetzt, mit all dem bösen Humor und all der faszinierenden Vieldeutigkeit, die dessen Werk schon damals prägte. Keine Axt, sondern ein Hammer spielt eine Schlüsselrolle in „Superbuhei“. So oder so schlägt auch dieser Roman „das gefrorene Meer in uns“ auf. Oder besser gesagt: Er schmilzt ein Loch hinein. Seite für Seite. Bis man mit ihm untergeht.
Cover © Frankfurter Verlagsanstalt
- Autor: Sven Amtsberg
- Titel: Superbuhei
- Verlag: Frankfurter Verlagsgesellschaft
- Erschienen: 03/2017
- Einband: Gebunden
- Seiten: 320
- ISBN: 978-3627002343
- Sprache: (bei nicht-deutschen Büchern, sonst weglassen)
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