Alfred Hitchcock – Sämtliche Filme (Bildband)


TASCHEN, der Verlag für Privatausstellungen ikonischer Bildkunst im Einband, hat sich abermals dem wohl größten Regisseur aller Zeiten angenommen. Nachdem bereits 2005 ein englischsprachiges Buch unter demselben (übersetzten) Titel erschien, wird mit „Alfred Hitchcock – Sämtliche Filme“ eine XXL-Werkschau mit satten 688 Seiten und zum fairen Preis von 30 Euro erhältlich. Rein vom Bildmaterial betrachtet, ist der liebevoll gestaltete Band ein umfangreiches wie für alle Chronisten und Fans lohnenswertes Dokument zwischen weltberühmten Filmszenen und spannenden Archivaufnahmen. Doch Herausgeber Paul Duncan schwebte wie bei seinen anderen, zum Teil herausragenden TASCHEN-Veröffentlichungen mehr als ein purer Bildband vor, wofür in den Textteilen allerdings eine stärkere Fokussierung auf eine Zielgruppe und eine konsistente Herangehensweise wünschenswert gewesen wäre.

Zu kaum einem Verlag passt eine „Sämtliche…“-Reihe so gut wie zu TASCHEN, denn hier wird große Kunst jeglicher Spielart in großformatigen Büchern zelebriert. Neben der Komplettschau von ausgewählten Vertretern der Malerei, erschienen auch immer mal wieder kleinere Bände zu Regisseuren und deren Gesamtwerk. Auch zu Alfred Hitchcock, dem nun eine deutschsprachige, fast siebenhundertseitige Ausgabe gewidmet wird, die visuell kaum Wünsche offenlässt (schon der Leinen-Einband spielt mit der ikonischen Figur Hitchcock ganz nach dem Geschmack des Meisters mit einem Augenzwinkern). Das geht In zwei Teilen, die sich mit dem Werdegang und chronologisch mit allen Filmen auseinandersetzen, werden Szenebilder, Szeneabfolgen sowie Archivbilder aus Hitchcocks Leben und der Welt hinter den Kulissen in allen Formaten bis zur Doppelseite präsentiert, selbstredend gestochen scharf, sofern diese Bildqualität zur Verfügung stand.

Im Falle Hitchcocks eine solche, der Gesamtheit verpflichtete Zusammenstellung auf die Beine zu stellen, ist nämlich eine durchaus knifflige Aufgabe. Die erste Version von „Der Mann, der zu viel wusste“ ist der früheste Film, der heute ohne Probleme in hochauflösender Heimkinoqualität erhältlich ist, doch bis 1934 hatte der bis dahin noch nicht so große Filmemacher bereits ganze 17 Filme abgedreht. Die Bildarchive geben aber zum Glück genug her, um selbst an das eigentliche, aber unvollendete Debüt „Number 13“ aus dem Jahr 1922 mit erstaunlichen Setfotos zu erinnern. Lange bleibt die Karriere Hitchcocks also eine Angelegenheit für ChronistInnen und Nerds oder auch FilmwissenschaftlerInnen, die sich bei der Suche nach der Initialzündung zum Teil auch durch schmierige Melodramen arbeiten müssen.

Der Werdegang des Menschen Alfred Hitchcock über die schwere Kindheit bis zum Einfluss der frühen deutschen Filmemacher ist dabei ein wichtiger Schlüssel, der dem mit ihm vertrauten Publikum jedoch in der vorliegenden Bearbeitung keinerlei Neuigkeiten anzubieten hat. Der Textteil weiß wichtige Aspekte anzusprechen (beispielsweise Hitchcocks Faszination für Handschellen und das Fallen), in der Analyse bleibt es dann aber doch oberflächlich, da zumeist nur eine (psychoanalytische) Interpretationslinie angeboten oder gar nur eine Szene pro Film herausgegriffen wird. Dasselbe gilt für alle Texte in diesem Bildband, weswegen sich die Frage aufdrängt, in welches Verhältnis sie zum Bildmaterial gesetzt worden sind. Wem es vor allem auf das Visuelle ankommt, wird sich zufrieden zeigen, doch von Herausgeber Paul Duncan sind vor allem die in die Tiefe gehenden Veröffentlichungen eingeschlagen, in denen beispielsweise die Archive von Stanley Kubrick oder Disney geöffnet und fachgerecht aufbereitet wurden.

Gerade bei Hitchcock hätten sich ein paar Extraseiten zugunsten der Tiefe ausgezahlt, immerhin bieten selbst seine bekanntesten Filme noch heute genügend Raum für neue Lesarten und Interpretationen. „Vertigo“ zum Beispiel ist ein höchst komplexes Werk, das bis dato in Teilen mysteriös bleibt, aber genau deswegen brilliert, weil es trotzdem ein Massenpublikum begeistern konnte. Statt immer nur auf das zwar gültige, aber doch arg ausgelutschte „Suspense“-Argument zu reduzieren, hätten Duncan und sein Team sehr viel feiner zu Werke gehen, Anknüpfungspunkte zur daniederliegenden Blockbusterkultur der Gegenwart suchen und weniger populäre Interpretationsansätze vorstellen können.

Auch hierin zeigt sich der Unterschied zum Bildteil, der mit sehr viel Liebe zum Detail zusammengestellt wurde. Ikonische Kinomomente wie die Duschszene werden chirurgisch aufgesplittet, um die Kunst des Filmemachens in ihrer Meisterschaft zu untersuchen und zu erklären. Archivbilder mit den Stars seiner Filme sind häufig auch gewollt irritierend gewählt, wenn zum Beispiel der Stuhl von Grace Kelly neben Hitchcock freibleibt, führen durch ihre Balance zwischen ernsthaften, akribischen Arbeitsphasen und gelösten Set-Momenten aber immer vor Augen, mit was für einem in allen Belangen außergewöhnlichen Künstler wir es zu tun hatten, den es immer wieder neu zu entdecken gilt. Zum Beispiel seine Cameo-Auftritte, die in gesammelter Form den Band abschließen. Tatsächlich hat jeder, der Hitchcock als den größten Regisseur aller Zeiten adelt, sehr viele gute Argumente auf seiner Seite, „Sämtliche Filme“ hätte diesem Mythos jedoch gerne noch mehr Facetten hinzufügen dürfen.

Hierbei hätte geholfen, sich stärker auf Zielgruppen zu fokussieren. Eigentlich orientiert sich eine solche Veröffentlichung ja an Sammlern und Fans, doch mit der einführenden Aufmachung der Texte und dem Preis von 30 Euro sollen wohl auch andere potenzielle KäuferInnen nicht gleich verschreckt werden. Letztendlich aber leidet darunter der journalistische Teil, der in der vorliegenden Form so oder so ähnlich auch woanders nachvollzogen werden kann. Schade ist das deswegen, da es sich trotz des Aufwands oftmals um nicht mehr als Begleitworte handelt, die sich nicht ganz entscheiden können, ob sie nicht doch mehr sein wollen. Und auch der zugewiesene Platz ist entscheidend: Der Werdegang Hitchcocks wird über 221 Seiten gezeichnet, geschriebenes Wort sind davon aber nur geschätzt etwas mehr als 40.

Nach einer Einführung und drei Etappen seines Schaffens („1899-1939: Das junge Genie“, „1940-1954: Der Typ, der dein Vertrauen in dieses ganze lausige Geschäft wiederherstellt“, „1954-1980: Ein wahrer Meister“) folgt der „Hauptteil“ mit den Filmen, die je auf acht bis zehn Seiten beleuchtet werden, wobei zwei Seiten das (immer wunderschönes) Filmposter und die Mitwirkenden zeigen und maximal zwei weitere Seiten (inklusive eines Infokastens für SchauspielerInnen und Schauspieler) sich dem Film selbst widmen. Auch hier gibt es viel zu entdecken, aber eben vor allem in visueller Hinsicht. Das Verhältnis von Text und Bild bleibt bis zum Schluss unentschlossen, ein Eindruck, der sich auf die Rezipierenden überträgt. Als Betrachtende werden sie den Band wunderbar finden und ihn weiterempfehlen, als Lesende zeigen sie sich hingegen enttäuscht. Eine möglichst unglückliche Wirkung, die einem Hitchcock nicht gerecht wird, wusste er doch genau, wie er sein Publikum zu locken hatte.

Fazit: „Alfred Hitchcock – Sämtliche Filme“ ist ein weiterer, liebevoll gestalteter und fein zusammengestellter Bildband aus dem Hause TASCHEN, der jedoch an seinem unentschlossenen Textkonzept kränkelt. Die geschriebenen Zeilen sind allenfalls Begleittexte, wollen aber dann doch häufiger in die Tiefe gehen, was bei der klaren Bevorzugung des Bildmaterials und dem dadurch begrenzten Platz zu einem merkwürdigen Unterfangen gerät. Szenebilder, Filmposter, Backstage- und Privataufnahmen, selbst der Einband, all das ist wunderbar ausgewählt, arrangiert und liegen meist in herausragender Qualität vor, es gibt eine Menge zu (wieder-)entdecken, kurz: visuell ist der Band vollkommen gelungen. Das Verhältnis zum Text und die fehlende Festlegung auf Zielgruppen lässt jedoch den Betrachtenden ratlos zurück, ob eine uneingeschränkte Empfehlung ausgesprochen werden sollte.

Szenebilder und Cover © TASCHEN Verlag

  • Herausgeber: Paul Duncan
  • Titel: Alfred Hitchcock – Sämtliche Filme
  • Verlag: TASCHEN
  • Erschienen: 04/2019
  • Einband: In Leinen gebunden
  • Seiten: 688
  • ISBN:978-3-8365-6681-0
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite

Wertung: 11/15 dpt


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