Anna Herzig – Die dritte Hälfte eines Lebens (Buch)


Viel Wut, viel Mut

Cover: Die dritte Hälfte eines Lebens (c) Otto Müller Verlag

Eine Wohlfühllektüre ist diese „kleine“ Dorfgeschichte absolut nicht. Denn die ländliche Idylle des fiktiven Dorfes Krimmwing, welche Anna Herzig in ihrem Romandebüt heraufbeschwört, ist reine Fassade. Und auch die Bezeichnung „klein“ passt nur zur Seitenzahl des im Otto Müller Verlag erschienenen Buches.

Ansonsten ist „Die dritte Hälfte eines Lebens“ ein richtig fetter Brocken, ein Schwergewicht an Themen. Voller generationenübergreifender Dramen und Tragödien. Es gibt Autor*innen, die mit dem gleichen Stoff mehrbändige Sagas fühlen würden. Dass das alles bei Herzig auf nur 127 Seiten Platz findet, ohne beengt zu wirken, ist dem beachtlichen Sprachgefühl der Autorin zu verdanken.

„Es sind die kleinen Verbrechen an der Seele, die die inneren Blutungen ausmachen.“

Mit diesem Satz eröffnet Herzig ihren Roman. Eindringlich bereitet sie vor, um was es im Folgenden gehen wird: Es wird Verletzte geben, Opfer, denen Unrecht geschieht und demnach also auch Täter. Und Blut wird fließen. Kein sichtbares, aber die beschriebenen Wunden sind nicht weniger schmerzhaft und nicht weniger lebensbedrohlich.

Herzig lenkt den Blick auf Krimmwing, welches für die Engstirnigkeit und Engherzigkeit längst überholter ländlicher Lebenstraditionen steht. In Krimmwing gibt es keinen Platz für Individualität. Und da es ohne Individualität auch kein Glück gibt, ist Krimmwing kein Ort, an dem man glücklich sein kann. Das Leben des Einzelnen zählt hier nicht. Der Einzelne hat sich angepasst zu verhalten, ansonsten wird er bestraft. Wobei Bestrafung heißt, dass ihm oder ihr das Leben unmöglich gemacht wird. Ein kollektives Gefängnis, in dem die Insassen sich gegenseitig kontrollieren.

Da ist zum Beispiel der transsexuelle Lorenz Karl Ignatius Rathbauer, genannt El-Kah-Ih, dem „wenige Tage vor seinem zwölften Geburtstag eine Frau aus der Seele gewachsen (ist).“ Der Wunsch, das Dorf zu verlassen, in dem er sein Ich niemals zeigen und leben darf, beherrscht ihn seit früher Kindheit.

Da ist Rosa, die 16-jährig schwanger wird, den Vater ihres Kindes aber nicht heiraten darf, weil er als Farbiger nicht der gewünschten Norm entspricht.

„Der Rosa war klar, wenn der Vater ruft, mit der Vaterstimme, dann gibt’s keinen Spielraum. Nur mehr: das Ertragen, das Sich-Verschließen vor den Messerstichen.
Eine stumme Mutter mit lila-gelblichen Flecken unter dem Hauskleid. Ein Ehemann nach dem Vorbild des eigenen Vaters. Und dessen Vater und dem davor.“
Seite 24

Auch Rosa sehnt sich fort. Ihre Fluchtversuche scheitern, und so bleibt sie wie ihr Freund El-Kah-Ih in Krimmwing sitzen. Die Grausamkeit des Dorfes überspannt Generationen und setzt sich auf diese Weise immer weiter fort. Rosas Sohn Sepp, dessen Hautfarbe alle im Dorf an die vermeintliche Verfehlung der Mutter erinnert, wird ebenfalls zum Objekt der allgemeinen Ablehnung. Die Dorfgemeinschaft macht ihm die Kindheit zur Hölle. Zwar gelingt ihm als jungem Mann zunächst die Flucht, aber mit seiner Heimkehr setzt sich die Tragödie erbarmungslos wieder in Gang.

„Jedes Dorf hat ein kollektives Gedächtnis und Krimmwing im Besonderen ist eine Erinnerungsmaschine.“

Mit ihren Beschreibungen geht die Autorin dabei weit über das Sichtbare hinaus. Ihre Worte sezieren jede einzelne Szene und legen so verborgene Bedeutungsschichten frei. Herzig weiß um das Unbehagen, welches sie mit ihren schonungslosen Bildern und den aufgedeckten Scheinheiligkeiten auslöst. Der Roman ist ein Dokument voller Wut. Eine offene Abrechnung mit den mitleidslosen Strukturen, die im ländlichen Milieu herrschen und ganze Existenzen vernichten.

Am Ende lässt Herzig den Mut gewinnen, den Mut als die Kraft, sich loszusagen, sich zu befreien.

„I am sorry. But I cannot take this shit anymore.“

Mit diesem Satz schließt die Autorin ihren Roman. Worte, die sie ihrem Protagonisten Sepp in den Mund legt. Aber irgendwie hat man den Eindruck, dass es ihre eigenen sehr persönlichen Worte sind.

Große Leseempfehlung!

  • Autor: Anna Herzig
  • Titel: Die dritte Hälfte eines Lebens
  • Verlag: Verlagsname Otto Müller Verlag
  • Erschienen: Februar 2022
  • Einband: Gebundene Ausgabe
  • Seiten: 140 Seiten
  • ISBN:  978-3701312931


Wertung: 12/15 dpt


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