Unter dem Titel „Seitenwechsel“ hat der kleine, feine Wortschau Verlag das Resultat eines spannenden literarischen Experiments veröffentlicht. Auf knapp 200 Seiten fasst der in schlichtes Rot gewandete Band die Tagebucheinträge von sechs schreibenden Personen zusammen.
Die Ausgangsidee: Über einen Zeitraum von drei Jahren schrieben die Autorinnen und Autoren, die sich an ganz unterschiedlichen Orten der Welt aufhielten, an untereinander fest vereinbarten Tagen ihre Beiträge. Die jeweils gemeinsamen Zeiten fungieren als Knotenpunkte, die die einzelnen Texte wie ein großes Netz zusammenhalten.
Beginnend mit dem 1. Juli 2019 und endend mit dem 10. Juli 2022 wurden die Jahre der Corona-Pandemie und des Beginns des Krieges in der Ukraine abgebildet. Auch die Klimakrise und deren Auswirkungen fanden Eingang in die Texte. Die ca. halbjährigen Abstände (24. Dezember 2019, 27. Mai 2020, 31. Dezember 2020, 25. Juni 2021, 1. Januar 2022) zwischen den gemeinsamen Terminen waren großzügig genug bemessen, um eine distanzierte Betrachtung auf das Zeitgeschehen zu erlauben.
Da die meisten beschriebenen Ereignisse allgemein bekannt sind, entsteht ein innerer Dialog zwischen der jeweils schreibenden und lesenden Person. Die Form des Tagebucheintrags erzeugt dabei zusätzlich Intimität. Die einzelnen Beiträge, unmittelbar aus dem eigenen Erleben und Empfinden heraus geschöpft, korrespondieren mit der privaten Perspektive der Lesenden. So formt sich aus der Vielfalt der Stimmen ein kulturkritischer Panoramablick aus unterschiedlichen Richtungen.
Der Gleichheit der gewählten Tage steht die Diversität der schreibenden Persönlichkeiten gegenüber.
Schriftstellerin Kathrin Schadt steuert ihre aus Prosa und Lyrik komponierten Beiträge von Barcelona aus bei. Verdichtete Sprachkunst trifft hier auf schwebende erzählerische Leichtigkeit.
Gundega Repše, Prosa-Autorin und Kunsthistorikerin aus Riga, malt mit ihren Worten idyllisch-melancholische Bilder ihres Heimatortes.
James Hopkins lebt und schreibt in Kathmandu, Nepal. Seine Texte sind phantastisch-funkelnde Autofiktionen, die die Realität effektvoll durchbrechen.
Der US-amerikanische Schriftsteller David Oastes aus Portland repräsentiert den Blick des amerikanischen Intellektuellen.
David Eisermann, bis 2018 Vorsitzender des Vereins Literaturhaus Bonn, langjähriger Moderator und Autor für das Kulturradio WDR3 und Lehrbeauftrager an der Bonner Universität, liefert Nachdenkliches aus Bonn.
Johanna Hansen, Malerin und Autorin sowie Herausgeberin der Literaturzeitschrift WORTSCHAU, begleitet den Textband mit ihren Gedanken als schreibende und auch bildende Künstlerin. Die Kunst im direkten Dialog mit der Welt ist der rote Faden, der sich durch ihre Beiträge zieht.
Das folgende Zitat von ihr ließe sich auch als Einleitung zu diesem Textband voranstellen:
Allen Autorinnen und Autoren gemeinsam ist der innere Dialog mit der Zeit, in der sie leben, den daraus erwachsenden Zumutungen aber auch Herausforderungen und Verantwortungen. Die Leser:innen werden Zeugen einer fragilen Balance aus Hilflosigkeit und Wut, die sich zwischen Wort und Sprachlosigkeit äußert.
schreibt Gundega Repše angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine.
Und David Oates formuliert wie folgt:
Obwohl jeder einzelne der hier publizierten Texte für sich allein steht, alle Schreibenden für sich allein ihrem eigenen Erzählfaden folgen, ohne dass sich diese Fäden kreuzen, stehen alle Beitrage in enger symbiotischer Beziehung zueinander.
Die Autorinnen und Autoren in diesem Band zeigen, wie sie sich schreibend einen Weg bahnen, um der Welt zu begegnen. Die Auseinandersetzung mit der Gegenwart ist ihnen nur möglich mit Hilfe ihrer Kunst. Johanna Hansen schreibt:
Kunst ist Trost. Literatur ist Überlebenselexier. Auch das ist ein Grund, diesen schmalen Band unbedingt zu lesen.
Wertung: 14/15 dpt