
Marie Gaté inszeniert ihren Roman „Mirador“ wie einen Spaziergang durch eine Gemäldegalerie. Ausgangspunkt ist das gleichnamige Landschaftgemälde des Augsburger Künstlers Johann Moritz Rugendas, der in den 1830er Jahren Mittel- und Südamerika bereiste. 1833 war er Gast bei deutschen Auswanderern auf der mexikanischen Hacienda „El Mirador“ am Fuße des Pico de Orizaba. Völlig überwältigt von der Schönheit der Natur malte und zeichnete er zahlreiche Bilder. Dabei entstand auch das Gemälde „El Mirador“, das er zum Dank für die Gastfreundschaft dem Hausherrn überließ. Auf Umwegen gelangte das Bild Mitte des 20. Jahrhunderts in die Geburtsstadt des Malers nach Augsburg und schließlich in den Besitz des Deutschen Ubaldo Stallforth, einem Nachfahren jener Familie, die El Mirador in Mexico einst bewohnte.
In wechselnden Perspektiven zeichnet die Autorin die Lebenswege ihrer Protagonisten nach, die miteinander über zwei Jahrhunderte hinweg über den Ort „El Mirador“ verbunden sind. Jedem Kapitel stellt sie die Beschreibung eines (teilweise fiktives) Bildes voraus, das die jeweilige Lebenssituation dieser Figur spiegelt.
So „sehen“ wir Ubaldo 1958, der bereits als Kind das Gemälde Rugendas im Haus der Eltern bewundert. Die Landschaftsansicht erinnert ihn an sein verlorenes Zuhause. Er hat Heimweh nach Argentinien. Die Eltern, beide Ärzte, sind mit ihm von Südamerika nach Deutschland gezogen. Es fällt ihm schwer sich in Sprache und Gewohnheiten einzuleben und das Bild schenkt ihm Trost.
Ubaldo fühlte sich nur vor dem Bild aufgehoben und sicher.
Am sichersten fühlte er sich im Bild selbst und am liebsten hätte er dort für
immer gewohnt. Wenn er die Augen zumachte und die Arme nach vorne streckte,
gelang es ihm hineinzuteten.
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Wir sehen Johann Moritz Rugendas im Jahr 1814, der bereits als Kind davon träumte, der Enge des Augsburger Elternhauses zu entkommen, um sich als Künstler von den Erwartungen der Familie zu emanzipieren.
Marie Gaté nimmt viele Spuren auf. Wir erfahren von den Umständen, die Ubaldos Vorfahren dazu brachten, von Deutschland nach Südamerika aufzubrechen, um sich dort ein neues Leben aufzubauen. Wir begleiten den jungen Maler Johann Moritz auf seiner Lebensreise mit vielen Höhen und Tiefen. Gaté hält sich nicht an die Chronologie. Sie springt mal vor, mal zurück, das verleiht ihrem Erzählen den Charme intuitiven Erinnerns. Zwei Jahrhunderte europäische und südamerikanische Geschichte werden gestreift. Zahlreiche Biografien werden präsentiert. Dabei gelingt es Gaté stets ihre Darstellung wie von leichter Hand entworfen aussehen zu lassen. Nie wirkt das Erzählte überfrachtet. Immer bleibt sie nah an ihren Figuren und so ist Historisches immer individuell Erfahrenes. Ihr Stil ist lebendig und atmosphärisch und ganz auf die jeweilige Figur im Mittelpunkt konzentriert.
Das Gemälde „El Mirador“, das es tatsächlich gibt, ebenso wie die literarische Figur des Malers Johann Moritz Rugendas und zahlreiche Protagonisten auf historischen Vorbildern beruhen, ist Ausgangs- und Endpunkt des Romans. El Mirador ist ein Sehnsuchtsort, für den einen ist es die Heimat der Kindheit, für den anderen Heimat der eigenen künstlerischen Erfüllung.
Der Stroux Verlag, bei dem der Roman im Frühjahr 2025 erschienen ist, hat das viel beschworene Gemälde aufs Cover genommen. Auch sonst hat man beim Layout viel Liebe zum Detail gezeigt. Skizzen und ein weiteres Bild Rugendas sind Teil der künsterischen Ausgestaltung.
Fazit: Der Roman fühlt sich an wie ein kurzweiliger Spaziergang durch eine Gemäldegalerie. Im Mittelpunkt ein Bild, das die Geschichte zweier Familien verbindet über Kontinente und mehrere Epochen hinweg. Das zentrale Thema ist die Suche nach Heimat und die Kunst, die zur Heimat wird.
- Autorin: Marie Gaté
- Titel: Mirador
- Verlag: STROUX edition
- Erschienen: Februar 2025
- Einband: Gebundene Ausgabe
- Seiten: 204 Seiten
- ISBN: 978-3948065393

Wertung: 11/15 dpt







