Lucia Leidenfrost – Mir ist die Zunge so schwer (Buch)

„Pass auf, wenn ich dir eine Geschichte erzähl, es könnte eine meiner letzten sein. Nur von den Alten kann man lernen.“

Jeder Mensch hat eine Geschichte zu erzählen. Eine persönliche Lebensgeschichte, die sich aus historischen und sozialen Gegebenheiten formt. Doch manchmal ist das Erlebte bedrückend wie eine schwere Last. Die Schwierigkeit, etwas in Worte zu fassen, „spiegelt“ sich auf der Zunge wider. Wie eine Schwelle, die sich nicht überwinden lässt, lastet Ungesagtes auf ihr, dem Spiegel der Seele.

Meine Erinnerung könnte eine Eule sein. Tagsüber macht sie nur ein Auge auf, um zu sehen, wer ihr nahekommt, aber in der Nacht wartet sie, bis die Mäuse über den Waldboden huschen. Lautlos gleitet sie hinab und greift zu mit ihren Klauen.“


Der Autorin Lucia Leidenfrost genügten die Erinnerungen und Erzählungen von Menschen, um tiefgründige Umrisse zu zeichnen, sie feinfühlig in Erscheinung treten zu lassen, die Erschütterung und seelischen Traumata einzufangen und die damit verbundenen Gefühle empor zu holen. Daraus entstanden ist ein eindrucksvolles, poetisches Erzählband mit dem Titel „Mir ist die Zunge so schwer“. In achtzehn Kurzgeschichten wird die Herausforderung des Erinnerns und Erzählens einer Generation der Nachkriegszeit skizziert.

Die Autorin ist das Sprachrohr für all jene, die um Worte ringen. Sie widmet sich den Geschichten mit poetischer Anmutung und schenkt ihnen Beachtung, denn sie sollen nicht in Vergessenheit geraten. Es sind Lebensgeschichten voll Sehnsucht und Hoffnung. Über Erfahrungen des Krieges von Menschen, die zu Tätern wurden und gleichzeitig Opfer waren. Überlebenskämpfe, in denen Kameradschaft und Zusammenhalt siegten. Es kommen auch jene zu Wort, die Verluste betrauern oder sich mit der eigenen Vergänglichkeit auseinandersetzen. Jene, die endlich loslassen können und ihren inneren Frieden finden. Aber auch solche, die in alteingesessenen, gesellschaftlichen Zwängen gefangen sind oder zwischen den Fronten stehen. Bei manchen bleibt vieles im Verborgenen, bei vielen nagt die Schuld, einige fühlen sich missverstanden und bei so manchem hält die Einsamkeit Einzug. Melancholisch schön und mit einem Gespür von Zuversicht betont Leidenfrost die Tragweite jeder einzelnen Erzählung und lässt ausreichend Spielraum, um zwischen den Zeilen zu lesen. Die Geschichten haben alle eines gemeinsam: Sie vereinen die Schwierigkeit, die Vergangenheit mit all ihren Sehnsüchten, Ängsten und Schuldgefühlen zum Ausdruck zu bringen.

Es ist ein Erzählband mit Nachwirkung. Jeder besitzt die nötigen Werkzeuge, um die eigene Lebensgeschichte zu erzählen, aber auch um ein offener Zuhörer zu sein. Die Erzählung „Lass dir eine Geschichte erzählen“ verdeutlicht das Gefühl der Freiheit und die Lebendigkeit des Geschichten Erzählens. Geschichten verbreiten sich, in dem sie weitererzählt werden, sich tief in uns verankern oder schriftlich festgehalten werden. Nur dann existiert ein Mensch auch noch nach seinem Tod weiter. Geschichten sind so vielfältig und doch findet sich immer wieder eine, an der man selbst wächst und die einem dazu verhilft, Mut zu fassen und die eigene Geschichte zu erzählen. Wer nicht redet, der hat auch keine Zuhörer. Am Ende unseres Lebens erlischt unsere Stimme und wir verpassen den Zeitpunkt, um zu reden. Unsere Geschichte wird dann mit uns begraben.

Fazit: „Mir ist die Zunge so schwer“ ist ein berührendes, geschichtsträchtiges Erzählband, das dem Schrecken des Krieges eine Stimme gibt. Tiefgründig und mit großer Sorgfalt erzählt Leidenfrost traurige, nachdenkliche Geschichten einer Generation der Nachkriegszeit. Durch die poetische Kraft der Sprache sprengt sie die Grenzen der Sprachlosigkeit und verleiht ihnen etwas Tröstliches und Versöhnliches.

  • Autorin: Lucia Leidenfrost
  • Titel: Mir ist die Zunge so schwer
  • Verlag: Kremayr & Scheriau
  • Erschienen: Februar 2017
  • Einband: Hardcover mit Schutzumschlag
  • Seiten: 192
  • ISBN: 978-3-218-01069-6
  • Besonderheit: Kurzgeschichten, Nachkriegszeit
  • Produktseite

Wertung: 13/15 dpt

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