
Vielleicht ist es eine Schnapsidee, die Mutter mit nach Japan zu nehmen. Aber vielleicht ist es auch genau das Richtige. Aki zieht es auf jeden Fall durch und bucht eine gemeinsame Reise zur japanischen Verwandtschaft. Ihre Mutter Keiko, die als junge Frau von Japan nach Deutschland ausgewandert ist, hat eine fortgeschrittene Demenz. Dass ihre Mutter Yasuko – Akis Großmutter – in hohem Alter in Japan gestorben ist, kann sie sich ebenso wenig merken wie viele andere alltäglichere Dinge. Ihren Bruder Masayuki und dessen Familie oder etwa ihre Cousine Hideko hat sie schon einige Jahre nicht mehr gesehen. Die Reise nach Japan wird daher teilweise zu einer Reise in die Vergangenheit, denn vor Ort fühlt sich die demente Keiko nach einiger Zeit wohler als in ihrem Seniorenheim, selbst wenn sie vieles überhaupt nicht wiedererkennt – und auch Aki erinnert sich an ihre Kindheit und die Familienbesuche in Japan.
Yuko Kuhn hat mit „Onigiri“ ein sehr ruhiges Buch geschrieben, in dem mit vielen kleinen Erinnerungen an die Vergangenheit im Wechsel mit den Schilderungen des Japan-Besuchs ein feines Porträt der Mutter-Tochter-Beziehung und der Frauen der Geschichte entstehen. Zunächst ist man als Leser:in ein wenig verloren in den kurzen Erinnerungsschnipseln, die scheinbar zusammenhanglos die Vergangenheit schildern. Aki, in Deutschland aufgewachsen, erinnert sich an die Essen der Mutter, sorgfältig zubereitete Onigiri, eingepackt in japanischen Boxen, und an das Schubladenfach voller Essstäbchen. Aber auch an die Besuche bei den deutschen reichen Großeltern, wo es Braten zum Mittag gibt und das gute Silberbesteck in der Schublade aufbewahrt wird. Sie erinnert sich an die Reaktionen anderer Kinder auf das deutsch-japanische Mädchen, an die Zeit, als der Vater sich absetzt und Keiko alleine mit Aki und dessen Bruder Kento ihr Leben hinbekommen muss. Sie beschreibt kurze Ereignisse im Leben der Mutter, ihre Anfänge in Deutschland und ihr Platz in einer deutschen Familie.
Die Autorin Yuko Kuhn schildert so viele Details und scheinbar willkürlich aneinandergereihte Erinnerungen, dass sie beim Lesen fast schnell wieder aus dem Gedächtnis rutschen – und trotzdem entsteht währenddessen ein enorm plastisches und emotionales Bild. Es ist eine Kindheit zwischen japanischer und deutscher Kultur, zwischen wenig und sehr viel Geld und zwischen einem Vater, der psychische Probleme hat und sich der Verantwortung einer Familie entzieht, sowie einer Mutter, die oftmals so müde und depressiv ist, dass sie für ihre Kinder kaum da ist. Dabei bedient sich Yuko Kuhn eher einer nüchternen Sprache, lässt die Ereignisse auch einfach mal für sich sprechen, ohne eine Anleitung, wofür es stehen soll – und schafft es dennoch, viele Emotionen zu transportieren.
Im Laufe der Kapitel ändert sich, wie man die verschiedenen Frauen wahrnimmt. Man entwickelt mehr und mehr Verständnis für die Tochter, die Mutter und die Großmutter, erkennt die Zusammenhänge, die von der Vergangenheit bis in die Gegenwart reichen. Das liegt natürlich auch daran, dass sich Aki mit der zunehmenden Demenz der Mutter und der Reise nach Japan mehr und mehr mit der Vergangenheit auseinandersetzt und deutlich weicher und liebevoller über ihre Mutter denkt. So wandelt sich das Bild der müde, depressiven Mutter, die scheinbar keine richtig herzliche Beziehung zu ihren Kindern hat, zu einer Frau, die enorm mutig und unkonventionell ist und in ihrer Zeit als junge Frau sehr lebenslustig war.
Fazit:
„Onigiri“ von Yuko Kuhn ist ein gefühlvoller Mutter-Tochter-Roman, ein Frauenroman, ein Generationenroman, ein Roman über das Leben in zwei Kulturen, über den Verlust von Heimat, über psychische Erkrankungen und die Herausforderungen, die eine Demenzerkrankung an die Familie, aber auch an die Erkrankte selbst stellt. So viele Themen, die so behutsam und dennoch tiefgehend angesprochen werden! Ein Roman, der vielleicht erst nach und nach seine Qualitäten entfaltet – dann aber so gehaltvoll und emotional ist, wie manche Bücher mit doppelt so vielen Seiten.
- Autorin: Yuko Kuhn
- Titel: Onigiri
- Verlag: Hanser Berlin
- Erschienen: 07/2025
- Einband: Hardcover
- Seiten: 208
- ISBN: 978-3-446-28311-4
- Sonstige Informationen: Persönliche Webseite von Yuko Kuhn mit Familienfotos aus Japan etc.
- Yuko Kuhn beim Hanser Berlin Verlag

Wertung: 15/15 dpt







