Susanne Tägder – Die Farbe des Schattens (Buch)

Ein Kindermord nach der Wende

Januar 1992. Hauptkommissar Arno Groth wäre bei der Polizei in Hamburg fast rausgeflogen, stattdessen ist er seit über drei Monaten als Aufbauhelfer Ost in dem kleinen Städtchen Wechtershagen gelandet. An einem Donnerstagabend verschwindet der elfjährige Matti Beck, der nur noch kurz etwas einkaufen sollte. Nachbarn und sämtliche Polizisten starten eine große Suchaktion, doch der Junge bleibt verschwunden. Als am folgenden Montagmorgen ein Leichenfund gemeldet wird, ahnt Groth bereits, dass die Suche ein trauriges Ende hat. Im Keller eines leerstehenden Hauses im Mönkebergviertel, wird der ermordete Matti gefunden. Für die Frage, warum man ausgerechnet diesen Kellerraum nicht durchsucht hat, bleibt keine Zeit; es gilt, den Täter zu finden.

„Spurlos gibt es nicht. Wer glaubt, keine Spuren zu finden, hat nicht gründlich genug gesucht.“

Der in ganz Wechtershagen als Alkoholiker und Gammler bekannt Karl Rinke scheint der perfekte Kandidat für eine schnelle Lösung und tatsächlich sprechen etliche Indizien gegen ihn. Doch dann erfährt Groth von einem weiteren Mordfall, der sich bereits sechs Jahre zuvor ereignete. Damals, im Juli 1986, wurde die Leiche des achtjährigen Chris Warnke am Schiefersee gefunden, der keine zwei Kilometer von Wechtershagen entfernt ist. Auch wenn die Zeitspanne zwischen den beiden Mordfällen recht lang auseinanderliegt, so glaubt Groth, dass es womöglich der gleiche Täter war. Sein Kollege Gerstacker hat damals den Fall bearbeitet und genau hier liegt Groths größtes Problem. Der einzige Polizist, der den Fall Warnke kennt, ist Gerstacker, seines Zeichens ehemaliger Major der Kriminalpolizei und wegen seiner Kontakte zur Stasi aus dem Dienst entlassen.

Zweiter Teil der Arno-Groth-Reihe

Auf den eindrucksvollen Debütroman „Das Schweigen des Wassers“ folgt mit „Die Farbe des Schattens“ der zweite Fall für Arno Groth, der nahtlos an den Vorgänger ansetzt. Erneut überzeugt Susanne Tägder mit einer großartig lakonischen Schreibweise, in der kaum ein Satz überflüssig scheint. Neben dem Kriminalplot, der sich sehr grob an einem wahren Fall orientiert, geht es vor allem um die Figurenzeichnungen und die Darstellung der Atmosphäre in der Wendezeit. Fangen wir in umgekehrter Reihenfolge an.

„Auf dem Mönkeberg verstehen die Leute nicht, dass die Polizei so lange braucht. Die sagen, dass das früher schneller ging als heute. Wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Die Handlung spielt Anfang 1992 in der fiktiven Stadt Wechtershagen und hier vor allem in dem Brennpunktbezirk namens Mönkebergviertel. Wer in den Hochhäusern des Mönkeberg lebt, hat es nicht geschafft und in Folge der Wende seinen Job verloren. Vor allem die Jugendlichen hadern mit ihrer Situation. Zuhause ist die Stimmung bestenfalls schlecht, ansonsten von Alkohol und Gewalt geprägt, zudem fehlt es an eigenen Perspektiven. Da gerät man schnell in falsche Kreise, erkennbar an Glatzen und Springerstiefeln. Zudem hat man in der DDR gelernt, sich rauszuhalten, denn damals ging es mit Verhaftungen oft sehr schnell. So trifft Groth auf eine Mauer des Schweigens. Hätte doch wenigstens die Taxifahrerin Ina den Mut, sich ihm zu öffnen, dann wäre der Mörder schnell gefasst, doch ausgerechnet die junge Mutter hat allen Grund, sich nicht an die Polizei zu wenden.

„Dann sind wir wieder bei der Theorie, dass irgendein Täter wahllos in einen Bus einsteigt, auf den Mönkeberg fährt und sich das erste Kind schnappt, das ihm über den Weg läuft.“

„Unbefriedigend, nicht wahr?“

Arno Groth ist eine ambivalente Figur, die nach wie vor am Tod seiner Tochter Saskia leidet. Wann und wie es genau geschah, erfährt man im vorliegenden Band, in dem es auch neue Entwicklungen zu seiner ehemaligen Mitschülerin Irina gibt. Alle haben ihre Päckchen zu tragen und nur wenige sind bereit, sich anderen mitzuteilen. Nicht zuletzt wegen der privaten Entwicklungen, auch in Hinblick auf das Verhältnis zwischen Groth und Gerstacker, empfiehlt sich zunächst die Lektüre des ersten Teils; ist aber kein Muss.

„An solche Zufälle glaube ich nicht.“

„Du willst nicht daran glauben. Ich wollte es auch nicht. Aber ganz offensichtlich darf man den Zufall nicht unterschätzen.“

Abschießend noch ein paar Anmerkungen zum Krimiplot. Lange bleibt unklar, ob es sich um einen Serientäter handelt oder es um zwei Mörder geht. Gab es ein Motiv bei den Taten oder wurden die Opfer zufällig ausgewählt? Authentisch und detailverliebt wird die Polizeiarbeit zur Wendezeit geschildert. Es gibt noch keine Uniformen für weibliche Polizisten, so dass diese nur im Innendienst eingesetzt werden dürfen und Irina hat gerade ein eigenes Telefon bekommen, worauf viele Menschen weiterhin warten. Der Aufbau Ost ist in den Anfängen und daher sind auch bei der Polizei Vorbehalte seitens der West- gegenüber den Ost-Kollegen spürbar.

Wer auf wilde Action aus ist, greift hier übrigens komplett daneben. Wer hingegen atmosphärische Feinkost erwartet, darf und sollte zugreifen. Die Zeit nach der Wende wird mit all ihren Schattierungen lebendig. Bitte mehr davon!

  • Autorin: Susanne Tägder
  • Titel: Die Farbe des Schattens
  • Verlag: Tropen
  • Umfang: 336 Seiten
  • Einband: Taschenbuch
  • Erschienen: September 2025
  • ISBN: 978-3-608-50273-2
  • Produktseite

Wertung: 12/15 dpt

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