Ayelet Gundar-Goshen – Ungebetene Gäste (Buch)

Ein Hammer fällt von einem Balkon und tötet einen Jugendlichen. Naomi, an deren Balkon die Arbeiten ausgeführt wurden, weiß: Während der Unfall passierte, war der arabische Handwerker gar nicht auf dem Balkon – es muss also ihr kleiner, 14 Monate alter Sohn gewesen sein, der das Unglück verursacht hat. Von der Straße hört sie die Rufe „Das ist ein Anschlag!“. Zu groß ist in diesem Moment die Angst, sie wäre der Fahrlässigkeit schuldig, und die Israelin schweigt, als der palästinensische Handwerker in ihrer Wohnung von der Polizei verhaftet wird. Ayelet Gundar-Goshen hat sich eine kleine und dennoch extreme Konsequenzen auslösende Situation ausgedacht, um ihren Roman „Ungebetene Gäste“ zu beginnen.

Die israelische Autorin und Trauma-Therapeutin hat zunächst Psychologie studiert und anschließend Film und Drehbuch. Beides merkt man ihren Büchern an, die sich immer wieder um psychologische Dilemma drehen und die Lesenden auch gnadenlos mit in diese inneren Konflikte ziehen: Wie hätte ich in dieser Situation reagiert? Gibt es ein Richtig und ein Falsch und wo liegt die Grenze? In welchem Moment hätte sich der gesamte spätere Verlauf noch ändern oder aufhalten lassen? Das Ganze schildert Gundar-Goshen mit einem sehr präzisen Blick auf das menschliche Verhalten – und alle ihre bildstarken Bücher könnten verfilmt werden.

Vor allem im ersten Teil in „Ungebetene Gäste“ zeigt die Schriftstellerin, welche Folgen ein Verschweigen, eine Lüge oder eine Halbwahrheit haben kann. Der junge Sohn des Handwerkers, der noch nichts von der Verhaftung weiß, will seinen Vater abholen. Als Naomis Mann Juval ihn aus der Wohnung scheucht, entdecken die Nachbarn den arabischen Jungen auf der Straßen und schnell findet sich ein Lynchmob, der sich auf den „Terroristen“ stürzt. Juval beschützt ihn, gemeinsam fahren sie ihn in sein Heimatdorf und begegnen dort der gastfreundlichen Familie des Handwerkers. Dicht und atmosphärisch beschreibt Gundar-Goshen die Szenen, in denen das schlechte Gewissen in der jungen Mutter Naomi brodelt.

Diese Dinge hätten längst gesagt werden sollen, von ihr gesagt werden müssen. Wenn sie diese Dinge sagte, würde der verhaftete Arbeiter entlassen.S. 78

Schließlich erzählt sie ihrem Mann die Wahrheit und geht – drei Tage nach dem Unglück – auch zur Polizei. Doch ihr Schweigen zum falschen Zeitpunkt hat schon eine Eigendynamik ausgelöst, die sich nicht aufhalten lässt: Für die israelische Polizei trägt der Araber dennoch den größten Anteil an der Schuld. Der russische Lebensmittelhändler, der seinen jungen Sohn durch den Unfall verloren hat, will sich in seinem Schmerz an den arabischen Tätern und später an Naomis Familie rächen. Das gesamte Romangeschehen geschieht in einer Stimmung von gegenseitigen Vorurteilen, nichts ist unpolitisch: Jede Nationalität, jede Abstammung ist zugleich eine Schublade, in der Menschen einsortiert werden. Ein Schubladendenken, das zu Angst und Rassismus führt und Leben zerstört.

Naomi und Juval ziehen ein Jahr später schließlich mit ihrem kleinen Sohn aus der israelischen Nachbarschaft nach Nigeria, wo Juval einen gutbezahlten Job beginnt und die nigerianische Luftwaffe für Bergungsaufgaben trainiert. Hier beginnt sich der Roman vom atmosphärischen Kammerspiel im ersten Teil weit zu öffnen. Die Therapeutin, bei der die junge Familie um Rat für den ständig quengelnden und von Albträumen geplagten Uri sucht, ist eine ehemalige Freundin von Juval, die ihre ganz eigene, detaillierte Geschichte mitbringt. Beide verheimlichen Naomi gegenüber die kurze Beziehung, die sie noch während des Studiums hatten. Und wieder ist eine Unwahrheit in der Welt, die in die Innenwelten der Romanfiguren und ihr moralisches Denken blicken lassen.

Allerdings ist die Therapeutin Noga nur eine von vielen Figuren, die neu hinzukommen. Der arabische Handwerker ist lediglich noch durch die Anrufe seines erwachsenen Sohnes präsent, der bei der schuldigen Naomi Geld für die Gerichtsverhandlung fordert. Auch wenn letztendlich doch alles mit allem verknüpft ist, verliert der Roman mit dieser Öffnung an Intensität und Fokus. Verbindendes Element bleibt dennoch weiterhin die moralische Ambivalenz der Figuren, die zwischen Schuld, Verantwortung und Handlungen versuchen, ihr Leben zu meistern.

Fazit:

„Ungebetene Gäste“ von Ayelet Gundar-Goshen ist ein Roman, in dem jederzeit Schuld, Moral, Verantwortung und Rache im Mittelpunkt stehen. Die Autorin beobachtet ihre Protagonisten, die von Vorurteilen und Rassismus getrieben sind, psychologisch sehr genau – und die Leser müssen sich fragen, wie sie selbst gehandelt hätten. Mit der Ansiedlung der Geschichte in Israel erhält der Roman nicht nur eine psychologische, sondern auch eine politische Dimension.

Wertung: 12/15 dpt

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