Tschernobyl, Kurt Waldheim und ein schwieriger Mordfall in “Schatten aus Stein”

Gruppeninspektor Paul Zedlnitzky vom Sicherheitsbüro wird am 29. April 1986 nach Wien-Margareten gerufen, wo in seiner Praxis der Zahnarzt Dr. Walter Dinotti erschlagen aufgefunden wurde. Zeugen gibt es nicht, denn der über siebzigjährige hatte nur noch wenige Patienten und auch die Bewohner des Hauses können keine Hinweise geben. Gestohlen wurde offenbar nichts und nach Aussagen von Frau und Tochter hatte er keine Feinde. In der Wohnung des Verstorbenen stößt Zedlnitzky auf alte Unterlagen, wonach sich Dinotti intensiv mit dem Kriegsverbrecher Willi Birgler und dem Massaker der SS in Stein an der Donau kurz vor Kriegsende befasst hat. Birgler, der „Schlächter von Stein“, wurde im April 1945 verhaftet und später zum Tode verurteilt, konnte jedoch im September 1946 fliehen. Seitdem fehlt jede Spur von ihm.
Während Zedlnitzky und sein Kollege Pospischil auf der Stelle treten, machen Polizeichef Schuchter und Staatsanwalt Reichenberger Druck. Dabei wollen sie von der vermeintlich heißen Spur in die Vergangenheit nichts wissen, zumal die Nazizeit dank des Präsidentschaftswahlkampfes ohnehin in aller Munde ist. Dort steht in wenigen Tagen der Ex-Generalsekretär der Vereinten Nationen und wegen seiner Aktivitäten während des Zweiten Weltkrieges in heftige Kritik geratene Kurt Waldheim zur Wahl. Derweil macht sich Zedlnitzkys Frau vor allem Sorgen um ihre Kinder, denn vor wenigen Tagen gab es eine Reaktorkatastrophe in Tschernobyl.
Schillernde Zeitreise
Andreas Pittler, bekannt durch seine Inspektor-Bronstein-Reihe und die Kärntner-Krimis um die Ferlacher Polizisten Obiltschnig und Popatnig, legt mit „Schatten aus Stein“ eine stimmungsvolle Zeitreise in das Jahr 1986 vor. Die Geschichte spielt vor den Hintergründen der Tschernobyl-Katastrophe sowie der Waldheim-Krise, wobei an Letzterer auch Amerika kräftig mitwirkt. Sie setzen Kurt Waldheim auf die Watch List, was einem Einreiseverbot gleichkommt. Die Angst der Menschen vor einer atomaren Wolke mit ungewissen Folgen sowie dem Frust der Sozialdemokraten angesichts erhörter Umfragewerte für den konservativen Waldheim sind gut abgebildet und natürlich passt es zum Thema Waldheim, dass im aktuellen Mordfall eine Spur in das Jahr 1945 führt, eben zu besagtem Massaker in Stein an der Donau, bei dem die SS am 6. April 1945 mehrere hundert Häftlinge ermordete.
Sie glauben wirklich, ein rechtskräftig zum Tod verurteilter Mörder bewegt sich ganz offen und ungeniert in diesem Land und macht dabei auch noch Karriere? Also ich bin ja vieles gewohnt, aber das ginge dann ja wohl zu weit.
Unabhängig von den zuvor genannten drei Hauptthemen wird das Jahr 1986 auch in weiterer Hinsicht lebendig dargestellt. Das Tastentelefon ersetzt die Wählscheibe, in den Charts führt „Jeanny“ von Falco vor dem „Märchenprinz“ der EAV. Sprachlich geht es wild her, zumindest für Nicht-Österreicher. Da wird der Zahnarzt zum Pappenschlosser und in der Kantine gibt es Rahmfisolen mit Augsburgern. Einige Ausführungen werden im Anhang „übersetzt“. Wien als Kulisse kommt ebenfalls nicht zu knapp vor, denn es gibt mitunter kleinteilige Aufzählungen über welche Straßen die Ermittler von A nach B kommen, was auf Dauer anstrengend wirkt, zumal die Straßennamen unerheblich sind. Ebenfalls ausufernd ist das Privatleben von Zedlnitzky, was nur bedingt von Interesse respektive für den Krimiplot von Belang ist.
Der Krimiplot selbst bleibt derweil überschaubar, denn mangels Alternativen muss der Mörder von Dinotti jener Birgler sein. Dem Leser wird früh klar, worum es – unter anderem – geht, nämlich um ein bekanntes Thema, welches beispielsweise Andreas Pflüger (Deutscher Krimipreis 2023 für „Wie sterben geht“) in seinem Roman „Ritchie Girl“ behandelt hat. Alte Nazis und deren willige Mitläufer, die nach Kriegsende problemlos weitermachen konnten. Wie kann das sein? Bleiben die Fragen offen, wie dies zu beweisen wäre und wo Birgler überhaupt zu finden ist. Hier gibt es feine Überraschung.
- Autor: Andreas Pittler
- Titel: Schatten aus Stein
- Verlag: Ueberreuter
- Umfang: 240 Seiten
- Einband: Taschenbuch
- Erschienen: Februar 2020
- ISBN: 978-3-8000-8002-1
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