William Gibson – Systemneustart (Buch)


William Gibson - Systemneustart (Buch)“Systemneustart” heißt William Gibsons aktuellster Roman und schließt die mit “Mustererkennung” (2003) begonnene und 2007 mit “Quellcode” fortgesetzte “Bigend”-Trilogie ab, in welcher ein Marketing-Guru namens Bigend die Fäden zieht. Die neueste Reihe des SciFi-Meisters ist jedoch keine Zukunftsfiktion der klassischen Art, sondern in erster Linie ein psychologisch agierender Wirtschafts-Thriller im System der Marketing- und Modewelt.

Das wiederum steht im krassen Gegensatz zu Gibsons früheren Werken wie beispielsweise der hierzulande unter dem Titel “Neuromancer” gehandelten “Sprawl”-Trilogie (1984-1988), in deren futuristischer Welt nicht das Marketing, sondern selbstständig gewordene Künstliche Intelligenz die Geschichte vorantreibt. “Neuromancer” sei hier zudem als kleine Empfehlung am Rande erwähnt: Das Werk stellt sowohl die Grundlage des Cyberpunk als auch ein Meilenstein in der SciFi-Literatur dar. Denn der US-amerikanische Autor prägte damit die heute gängigen Konzepte von Cyberspace und Matrix, bevor das Internet explodierend in unser Leben schlich. Und im Alleingang führte er auch eine Bildersprache in das Genre ein, die noch heute in Filmen, Büchern und Games zu finden ist.

Gibsons Zukunftsfiktionen sind jedoch nie Selbstzweck und immer brusttief in der spekulativen Literatur verankert. Sie orientieren sich an der aktuellen Lage und einem gut beobachteten Zeitgeist. Deswegen ist “Bigend” wie das “Sprawl”, nur anders und eben nicht SciFi. Es ist Cultural Fiction und seine Wissenschaft ist die Semantik der Mode-, Marken-, und Finanzwelt, die uns mit einem allgegenwärtigen Subtext in ihr System einbindet und so eine andere Art der Matrix erschafft. Lesbar, durchschaubar, veränderbar zumindest für einige Figuren aus dem Bigend-Universum: Seine Hacker und Konsolen-Cowboys von damals sind heute Designer, Modeschöpfer und Menschen, die in dem Subtext der Logos, Marken, Moden, der Werbung und der Symbole lesen können, um so die Finanzwelt zu ihren Gunsten zu verändern.

“Systemneustart” erzählt die Geschichten von Milgrim und Hollis weiter, die schon in den vorangegangenen Teilen für Bigend, den undurchschaubaren CEO des Marketing-Kraken Blue Ant, gearbeitet haben. Hollis ist eine von Gibson bis in die letzte Silbe authentisch gestaltete, starke Persönlichkeit. Durch die Finanzkrise hat sie einen Gutteil ihres Vermögens verloren, welches sie sich einst als erfolgreiche Rocksängerin verdiente. Bigend verspricht ihr, den Verlust zu ersetzten, wenn sie für ihn nach einer geheimen Modemarke sucht, die sich mit großem Erfolg der Marketingstrategie des Nicht-Marketings bedient. Milgrim ist eigentlich ein Russisch-Dolmetscher, der auf die schiefe Bahn geraten ist und drogenabhängig wurde. Bigend zahlte ihm einen kostspieligen High-Tech-Entzug, der einen Großteil von Milgrims Persönlichkeit auslöschte. Trotz oder gerade wegen dieses Handicaps schafft der Autor auch bei dem naiven aber ausgezeichneten Beobachter Milgrim eine Figurentiefe, die den Leser aufgrund der Erzählweise empathisch herausfordert. Die Figuren legen nicht auf jeder Seite ihre Gefühle offen, sondern lassen ihre Handlungen sprechen. Der Leser wird angehalten, zu beobachten und sich selbst ein Bild zu machen. Dass der Text diese Beobachtungen zulässt, ohne roboterhaft zu wirken, ist nur ein Qualitätsmerkmal.

Milgrim soll Hollis bei der Suche nach der außergewöhnlichen Modemarke helfen und beide geraten in einen Konkurrenzkampf, bei dem sich Militärs, Modeschöpfer und Marketingstrategen auf erstaunlich nachvollziehbare Weise vermischen. So erhält Gibson auf der gesamten Länge des Buches genug Substanz, die es zu erzählen lohnt und schmeißt ohne Zauberkasten oder massig lebensbedrohliche Situationen auch die Paranoia-Maschine des Lesers an. Wer spielt? Wer ist echt? Wer ist der Mann? Und wieso genau habe ich mir gestern diese Hose gekauft?

William Gibson - Systemneustart (Buch) 2Was dabei ein wenig zu kurz kommt, sind die für Gibsons Werke typischen philosophischen Rosinen, in kräftige Worte verdichtet und schön zu lesen. Zwar beinhaltet “Systemneustart” durchaus auch Stellen wirklich interessanter Gedanken und Ansichten, aber die Neigung zu übermütig romantischen Dekonstruktionen scheint gezügelt. Gibson erzählt die Geschichte gerade heraus und ohne Überschwang, wobei er nur in quasi-philosophischen Randbemerkungen auf die problematische Verschaltung von sozialer Wirklichkeit und konstruierter Konsumwelt eingeht.

Wer jetzt meint, dass dann aber bestimmt der große ganze Entwurf von “Systemneustart” eine interessante, vielleicht sogar kritische Perspektive auf den Sinneshandel der Marketingstrategen und den Finanzmarkt bereithält, wird leider ebenso enttäuscht. Die Pointe des Romans verhandelt den vorliegenden Stoff weitaus weniger kritisch, als es wünschenswert gewesen wäre.

Unterm Strich bleibt in jedem Fall ein richtig gut geschriebener Thriller, der in einer leicht überzogenen (und damit zukünftigen?) Gegenwart eher der Technologie von Sprache, Kultur und Marketing beizukommen sucht als einer spekulativen Zukunftstechnik. Obwohl “Systemneustart” in dieser Hinsicht wohl das schwächste Buch der Trilogie ist. Dabei hat es die Geschichte trotzdem nicht nötig, sich auf gängige Klischees dicker Verschwörungstheorien zu stützen. Und dank Gibsons Stil wirkt es sowieso wie nicht von dieser Welt. Schön. Spannend. Aber wenig kritisch.

 Foto: The Neuromancer von Gonzo Bonzo (Creative Commons Lizenz)
Cover © Klett-Cotta/Tropen

 

  • Autor: William Gibson
  • Titel: Systemneustart
  • Originaltitel: Zero History
  • Übersetzer: Hannes Riffel
  • Verlag: Klett-Cotta/Tropen
  • Erschienen: 2011
  • Einband: gebunden mit Schutzumschlag
  • Seiten: 490
  • ISBN: 978-3-608-50113-1
  • Sonstige Informationen:
    Bezugsmöglichkeit

Wertung: 10/15 dpt

 

 

 


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