Books and the City #5 – Schwere Kost


Books & The City Logo © booknerds.deDie Literatur, die Großstadt – das gehört zusammen, und zwar nicht erst, seit Fotos von Buch- und Kaffeekunst zu den beliebtesten Motiven auf Instagramgehören. Heute eine neue Geschichte aus der Kulturstadt, von ihren Menschen und Büchern.

Seit über einem Monat kämpfe ich schon mit jenem Klassiker der Weltliteratur, von dem Walter Jens sagte, dieses Buch wäre seine Wahl für die sprichwörtliche einsame Insel. Die Rede ist von Thomas Manns „Der Zauberberg“, und wie ich nicht anders erwartet hatte, unterhält es mich bestens: Famose Wortwahl und -schöpfungen, ein leidlich interessantes Figurentableau und eine gute Portion Witz und Ironie. Trotzdem komme ich kaum vorwärts. Sobald ich ein paar Seiten durchgekaut habe, muss ich das Buch beiseitelegen, muss Kapitel und Absätze sacken lassen und verdauen. Dabei komme ich nicht umhin, mich zu fragen: Was haben Essen und Literatur gemeinsam?

Auf den ersten Blick nicht so viel, sieht man einmal von Kaffee/Tee-Buch-Bildkompositionen auf Instagram, gelegentlichen Klößchen auf dem Cover eines Regionalkrimis und dem weiten Feld der Kochbücher ab.
Essen, das ist zunächst die Substanz der Speisen, die die Menschen – bestenfalls – gesund ernähren: Kohlenhydrate, Eiweiße und Fette, dazu Vitamine, Mineral- und Ballaststoffe. Zu seiner Zeit und im richtigen Maß verzehrt, erhält das, was hinter wenigen Worten steckt, uns am Leben. Darüber hinaus ist Essen mehr als bloße Notwendigkeit. Es ist Geschmack, Textur, Farbe, Form, Haptik, Duft und Friedensstifter, denn Leute, die gemeinsam Brot brechen, können sich nicht gegenseitig die Knochen brechen.

Aber was hat das mit Literatur zu tun? Alles. Mit Büchern verhält es sich nämlich wie mit dem Essen.

Im dritten Semester Literaturwissenschaften war der Kanon (wieder einmal) zum Bersten gefüllt: Seminare und Vorlesungen – Bücher, Bücher überall und keine Seite zu lesen. Um zu entspannen, las ich die „Twilight“-Bücher und sie waren verdammt gut; anfangs: Das erste Buch verschlang ich, das zweite gleich hinterher. In der Mitte des dritten begann es mich zu langweilen, das vierte las ich nur noch aus Pflichtgefühl.
Was war passiert? Im Grunde dasselbe, was auch beim Besuch eines durchschnittlich schlechten Burgerladens passiert: Völlig ausgehungert bestellt man drei Cheeseburger (wegen der Gürkchen) und schlingt sie hinein. Das geht befriedigenderweise sehr schnell, da dem Essen (wenn man es denn so nennen will) alle die Aufnahme hemmenden Eigenschaften entzogen wurden: Fasern und Ballaststoffe, Vitamine, aber auch guter Geschmack, interessantes Mundgefühl, angenehmer Duft. Genauso schnell wie der Cheeseburger in den Magen wandert, verschwindet er auch wieder von dort und hinterlässt neuen Hunger.
Ganz anders verhält es sich mit einer Mahlzeit, die verschiedene Gerüche und Geschmäcker zu bieten hat, Gaumen, Zunge und Zähne mit verschiedenen Konsistenzen, vielleicht sogar Temperaturen kitzelt, oder auch einer gut belegten Brotscheibe, an der man eine Weile kauen muss, bevor man sie herunterschlucken kann und die lange sättigt.
Thomas Manns „Der Zauberberg“ ist literarisches Schwarzbrot, ein Wälzer mit siebenjähriger Handlungsdauer. Seine Raffinesse freilich liegt im Belag, dem Witz, der feinen Ironie und den geistreichen Be- und Zuschreibungen der Kuranstalt in Davos und ihrer Gäste. Das Textgewebe ist dicht, der Geist wird ganz vom Lesen in Anspruch genommen. Ein solches Buch schlingt man ebenso wenig herunter wie eine festliche Speise oder einen guten Whisky.

Und Apropos Whisky: Beim schottischen Branntwein im Besonderen und der Geschmacksbildung im Allgemeinen findet sich eine weitere Parallele zwischen Literatur und Kulinarik.

Der erste Geschmack, den alle Menschen wahrnehmen, ist die Süße der Muttermilch. Gibt man kleinen Kindern zum ersten Mal eine saure Beere, lässt sie die Schärfe eines Radieschens oder das Bittere eines Chicoréeblattes probieren, kann man ganz genau sehen, wie sie die Gesichter verziehen. Begeisterung sieht anders aus, aber mit der Zeit und täglich drei bis sieben Mahlzeiten entwickeln die jungen Menschen echte Vorlieben.
In der Literatur wie beim Essen kommt es auf die Geschmacksbildung an, womit nicht gemeint ist, einen guten Geschmack zu entwickeln oder einen schlechten zu verhindern. Es geht ums Probieren, Austesten, das Erfahren neuer Eindrücke und auch das sich Weiterbilden und Entwickeln – in beiden Fällen eine höchst sinnliche Erfahrung.

Das Lesen und Essen sind sich am Ende auf frappierende Weise ähnlich: Beides will geschult werden. Bücher wie Speisen müssen Substanz haben, um zu sättigen. Und – vielleicht am wichtigsten – auch wer liest, hat in der Regel nicht die Hände frei, sie an jemandes Hals zu legen.

(Pic © booknerds.de/darin enthaltene Buchseite © blanvalet Verlag)


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