Das große Verschwinden und eine ungeklärte Vaterschaft
Vor Jahrzehnten lebte der namenlose Ich-Erzähler im jugendlichen Alter mit seinen Eltern und der jüngeren Schwester in einer kleinen Stadt an der Ijssel. In seiner Schulklasse war Nico sein bester Freund, was womöglich an dessen älterer Schwester Frida lag, in die der Erzähler, nennen wir ihn einfach Hans, verliebt war. Altersbedingt eine platonische Liebe, aber immerhin. Frida wohnt derzeit bei ihren Großeltern auf einem Bauernhof, da der Opa krank ist und die Oma stürzte, wobei sie sich Arm und Bein brach. Hans begleitet Nico zum Bauernhof und wird ordentlich überrascht, denn die Oma ist wohlauf und Frida offensichtlich schwanger. Mit sechzehn Jahren wird sie also ein Kind zur Welt bringen, was die Eltern gern vertuschen möchten. Eine Strategie, die nicht ganz aufgeht, verbunden mit einer Lüge über den Säugling, die ebenfalls nicht verfängt. Bleibt die wichtigste Frage: wer ist der Vater?
Hans geht zur Schule, arbeitet aber samstags in einer Buchhandlung und hilft gelegentlich an Sonntagen Pieter Tempelmans Plat, dessen Archiv in Ordnung zu bringen. Tempelmans Plat hat ein höchst ungewöhnliches Hobby: Er interessiert sich für Vermisstenfälle aller Art. Davon gibt es mehr als man denkt, nicht nur in Hinsicht auf Frida. Die ältere Schwester von Hans starb bei einem Unfall, was die Familie auseinanderriss. Ein besonders schwerer Fall von Vermissen.
Kurzweiliges, literarisches Lesevergnügen
Auf der Verlagsseite von schruf & stipetic wird Autor Hans Heesen wie folgt zitiert: „Ich habe mich immer um das Vergessene oder Verschüttete gekümmert. Das fühlt sich wie eine Verantwortung an und gilt auch für die Geschichte über meine Schwester und Frida. Wenn ich sie nicht aufschreibe, wer dann?“ Die demnach autobiografisch geprägte Geschichte spielt in den 1970er-Jahren, wo der Erzähler zuhause eine belastende Stimmung innerhalb der eigenen Familie erfährt, was dem viel zu frühen Tod seiner älteren Schwester geschuldet ist. Hinzu kommt, dass der zunächst vierzehn-, später fünfzehnjährige Hans mitten in der Pubertät steht. Ein erster Kuss mit einem älteren Mädchen, der Traum von der unerreichbar scheinenden Frida, sind prägende Eindrücke. Wie damit aber umgehen?
Ein guter Schuss Coming of Age prägt die Erzählung, zudem wird das Thema des Verschwindens facettenreich beleuchtet. Es gibt zahlreiche Wege unsichtbar zu werden und wo jemand verschwindet, bleiben anderen meist sprach- und hilflos zurück. Durch die Arbeit in der Buchhandlung und im „Archiv der Vermissten“ bekommt die Geschichte eine literarische respektive philosophische Note und so bietet dieses äußerlich etwas unscheinbar wirkende Buch mit dem leicht sperrigen Titel „Zumindest für eine gewisse Zeit“ letztlich eine ebenso kurzweilige wie erhellende Lektüre und am Ende eine überraschende Auflösung.
- Autor: Hans Heesen
- Titel: Zumindest für eine gewisse Zeit
- Originaltitel: Tenminste voor een bepaalde tijd Aus dem Niederländischen übersetzt von Evelyne Wehrens
- Verlag: schruf & stipetic
- Umfang: 140 Seiten
- Einband: Taschenbuch
- Erschienen: März 2024
- ISBN: 978-3-944359-90-8
- Produktseite
Wertung: 11/15 dpt