Liebe ist gewalttätig

Die Jury der Kölner Literaturaktion „Buch für die Stadt“ entschied sich 2025 für „Liebe ist gewaltig“ als Aktionsbuch. Es ist ein Roman über das komplexe Thema häusliche Gewalt und das Debut der in Hamburg lebenden, aus Tübingen stammenden Journalistin Claudia Schumacher. Es wirft einen Blick hinter die Kulissen des schwäbischen Bildungsbürgertums, in den dunklen Abgrund familiärer Gewalt und emotionaler Abhängigkeit.
Die siebzehnjährige Juli wächst in einer Kleinstadt in der Nähe von Stuttgart in einem gut bürgerlichen Elternhaus auf. Nach außen wahrt Familie Ehre das Bild einer Vorzeigefamilie: Vater und Mutter Ehre sind beide Anwälte und mit vier wohlgeratenen Kindern gesegnet. Ihre stattliche Vorstadtvilla ist ein Erbstück mütterlicherseits. Auf die jüngste Tochter Juli sind die Eltern besonders stolz. Als Kind war sie eine sehr erfolgreiche Eiskunstläuferin, als Teenager ist sie Klassenbeste und ein Mathe-Genie.
They only hit until you cry. After that, you don’t ask why. (aus “Luka” – Suzanne Vega)
Julis Geschichte beginnt im Jahr 2007 in der Psychiatrie, in der sie infolge eines Selbstmordversuchs aufgenommen wurde. Außerhalb ihres familiären Umfelds lernen wir Juli als empathische junge Frau kennen, die sich liebevoll um die demente Mitpatientin „Magic“-Margot kümmert. Da sie sich der Therapie eher verweigert, folgt der Rauswurf. Es geht zurück in ein familiäres Chaos, geprägt von Gewalt und Realitätsverweigerung. Vater Kurt schlägt seine Ehefrau, seinen Sohn Bruno und Tochter Juli. Eine Kombination aus Minderwertigkeitskomplexen und einem krankhaft übersteigerten Hang zur Perfektion führt bei ihm zu Erwartungen an die Kinder, die diese kaum erfüllen können. Doch wehe, wenn sie tatsächlich eines der vorgegebenen Ziele zu erreichen drohen– dann gilt es gewaltsam klarzustellen, wer der Stärkere ist.
2014 hat Juli die Familie verlassen, studiert in Berlin Mathematik und verdient ihr Geld als Profi-Gamerin. Über ihre Freundin Anikó lernt sie die Britin Sanyu kennen. Es ist Liebe auf den ersten Blick und tatsächlich erwidert die selbstbewusste Schwarze Julis Gefühle. Sanyu nennt sie Jules. Beide lachen miteinander, reisen gern und erleben eine wundervolle Zeit. Doch die Schatten der Vergangenheit legen sich wie eine dunkle, toxische Wolke über ihr fragiles Glück.
Noch einmal zwei Jahre später nennt Juli oder Jules sich schließlich Julia und lebt mit Marketing-Manager Thilo in Zürich. Ihre Vergangenheit hat sie fest in der tiefsten, dunkelsten Stelle ihrer Seele eingeschlossen. Ihr Leben im Bürgertum der Schweiz erscheint perfekt und sie pflegt ein zivilisiertes Verhältnis zu ihren Eltern. Zu Bruder Bruno, der im Elternhaus ihr Verbündeter war, brach sie jeglichen Kontakt ab. Hat Julia nun ihr Leben gefunden? Oder macht sie sich nur etwas vor und folgt dem Weg ihrer Mutter in einen weiteren Abgrund?
Gewalt erzeugt Gegengewalt, hat man Dir das nicht erklärt? (aus „Schunder-Song“ – Die Ärzte)
Für das Buch „Liebe ist gewaltig“ von Claudia Schumacher sollte man Triggerwarnungen aussprechen. Denn es geht nicht nur um exzessive, häusliche Gewalt, die ein Ehemann und Vater seiner Frau und seinen Kindern antut. Es geht darüber hinaus um das im Stich lassen von Schutzbedürftigen, um leugnen, lügen und vertuschen. Darum, dass vorsätzliche Grausamkeit verschwiegen, verharmlost und verzerrt wird. Es geht um Demütigung, Schuld und Schuldgefühle, um Selbstverleugnung und Selbsthass. Und es geht um emotionale Erpressung und tiefe Abhängigkeit. Auch wer nicht Opfer von häuslicher Gewalt geworden ist, trifft in diesem Buch vielleicht auf psychische Tabubrüche aus der eigenen Familiengeschichte, die triggern.
Jede dritte Frau in Deutschland ist von sexueller und/oder körperlicher Gewalt betroffen. Ein Viertel aller Frauen erleben körperliche und/oder sexuelle Gewalt in ihrer Partnerschaft, Tendenz steigend. Auch die Fallzahlen von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche nehmen Jahr für Jahr zu. Und hinter diesen Zahlen verbergen sich Menschen, die Schmerzen und Traumatisierung erfahren und ein Leben lang leiden. (Quelle Bundesministerium Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend)
Drei Lebensabschnitte und Perspektiven einer Protagonistin
„Liebe ist gewaltig“ erzählt eine solche fiktive Geschichte, die sich in vielen realen Familien so ähnlich abspielen könnte. Juli, ihr Bruder Bruno und ihre Mutter sind einer unberechenbaren Gewalt und massiven seelischen Grausamkeiten durch den Vater ausgesetzt. Es ist ein Leben mit Schlägen, Einschüchterungen, Beleidigungen und Missachtungen.
Im ersten Kapitel erzählt Juli aus der Ich-Perspektive, also unmittelbar aus ihrer Erlebniswelt. Lesende tauchen tief in die Gedanken und überbordenden Gefühle einer Jugendlichen ein, die verzweifelt versucht, ein normaler Teenager zu sein. Obwohl ihr Leben im Elternhaus kein bisschen behütet und liebevoll ist, sondern gefährlich und kalt.
Juli erzählt aus ihrem Leben und aus Rückblenden in ihre Kindheit– alle Zeitebenen in der Gegenwartsform. Zum Teil verschwimmen Gegenwart und Vergangenheit zu einem „einfach nur sein“ Zustand. Dass Juli an dieser Familiensituation nicht endgültig zerbricht, ist vielleicht ihrer Zuflucht in den Zynismus, zu einer Wut, aus der sie Stärke generiert und einer Hoffnung zu verdanken, an der sie festhält.
Sieben Jahre später in Berlin wird deutlich, wie extrem die Jahre im Elternhaus Jules Seele und Persönlichkeit beschädigt haben. Mit 21 Jahren ist Juli, nun Jules genannt, von zuhause ausgezogen, vom Schwabenländle ins ferne Berlin. Auch Jules erzählt in der Ich-Perspektive, aus Gegenwart und Vergangenheit nun in den jeweilig angepassten Zeitformen. Die Vergangenheit soll nun vergangen sein. Doch der häuslichen Hölle entkommen ist sie nicht. Zu tief sitzen Trauma und Selbsthass. Die Liebe zu einer warmherzigen und perfekt passenden Partnerin kann Jules nicht davor bewahren, selbstzerstörerisch zu handeln, anstatt ihr Leben zu leben. Und doch bleiben Juli und Jules Sympathieträgerinnen. Obwohl man sie manchmal nicht versteht und davon abhalten möchte, etwas zu tun, was ihr schadet. Was die Protagonistin ausmacht, ist ihre schonungslose Ehrlichkeit, ihr aufblitzender Mut und ihre klaren Gedanken.
Das finale Kapitel aus dem Jahr 2016, das „Julia“-Kapitel“, wird aus Thilos und Julias Perspektiven personal erzählt. Lesende gehen dadurch auf Abstand zur Protagonistin, die in einer Scheinwelt lebt, in der sich das verlogene Leben ihrer Eltern spiegelt.
Ein Fest für Fans einer prägnanten Sprache
Die Erzählweisen der drei Lebensabschnitte sind sehr unterschiedlich. Die ersten beiden Kapitel prägen eine emotional aufgeladene Sprache, die die Autorin Claudia Schumacher meisterhaft inszeniert; zynisch, wütend, subjektiv und prägnant. Hingegen erkennt man im letzten Kapitel, in dem Thilo zunächst über Julia spricht, sie nicht sofort wieder. Einen extremen Kontrast stellt Thilos Sprache dar, der selbstgefällig und erhaben misogyne Ansichten schwadroniert, während Julia sich seltsam zurückhält.
Wehrt Euch, leistet Widerstand!
„Liebe ist gewaltig“ erzählt von dem Schicksal einer jungen Frau in einer Familiengeschichte, die passagenweise kaum zu ertragen ist. Es sind wenige Szenen beschrieben, in der ungezügelte, rohe Gewalt auf Opfer herniedergeht, die sich nicht wehren können und wollen. Noch schlimmer wirken jene Dialoge, in denen Juli einen Schutz durch ihre Mutter einfordert und nichts als Verleugnung und Realitätsverdrehung erfährt. Oder gar von ihr feige und übel verraten wird. „Liebe ist gewaltig“ demonstriert allzu deutlich, dass die Wurzeln für häusliche Gewalt in der Stärkung und Akzeptanz patriarchischer Strukturen und toxischer Männlichkeit liegen. Der Roman ist ein lautes, klares und eindrückliches Plädoyer an Menschen jeglichen Geschlechts, sich diesen von Generation zu Generation weitervererbten und gelebten Grundlagen unserer Gesellschaft endlich aktiv zu widersetzen.
- Autorin: Claudia Schumacher
- Titel: Liebe ist gewaltig
- Verlag: dtv Verlag
- Erschienen: 05/2022
- Einband: eBook
- Seiten: 376
- EAN: 978-3-423-44088-2
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 13/15 dpt







