
Ein alternder Mann namens Erich lebt alleine in seiner Wohnung. Er kämpft gegen eine fortschreitende Altersschwäche an, die zunehmend seine Selbstbestimmung und Selbstständigkeit raubt. Jegliche Unterstützung von seiner Tochter Irina und einer Pflegerin lehnt er ab, bis zu dem Zeitpunkt, als er das junge Mädchen Katharina in sein Leben lässt. Die Jugendliche ist von ihrem Elternhaus ausgerissen, da ihr Vater die Familie verlassen hat, um in Russland zu arbeiten. Als sich die Wege von Erich und Katharina kreuzen, wissen sie noch nicht, was sie verbindet. Erichs Lebensinhalt steckt in der geheimnisvollen Welt der sibirischen Baumlandschaften. Tief verwurzelt in den dichten Wäldern ist auch seine eigene Geschichte, die Katharina anleitet, an ihrer eigenen zu wachsen.
Erich liebte den Geruch der Pflanzen, er erleichterte ihm den Schlaf. Seit die Nachbarin unter ihm gefragt hatte, ob auch er ein Problem mit feuchten Decken habe, war er noch vorsichtiger geworden. Niemand sollte ihm seinen Wald nehmen. Es war alles, was er noch hatte.«
Vergleichbar mit der Struktur eines Baumes nähert sich Dorian sanft und atmosphärisch an die Wurzeln der Protagonisten an. Es gelingt ihr zwei unterschiedliche Charaktere zu veranschaulichen, deren Begegnung oberflächlich und zweckdienlich wirkt, aber tiefe Wurzeln schlägt. Für den Leser entwickelt sich anhand einer Rückschau und abwechselnden Erzählsträngen ein „hochgewachsener Stamm“, der die Beziehung zwischen Erich und Katharina festigt. Erichs Leben zählt bereits viele Baumringe, während Katharinas „Lebensäste“ stürmische Zeiten erleben. Beide sehen sich mit Ängsten konfrontiert. Während sich Erich mit der Vergänglichkeit seines Lebens beschäftigen muss, ist Katharina an einem Lebenspunkt angelangt, an dem sie die richtige Entscheidung für ihre Zukunft treffen muss. Die Blätter von Erichs Lebensbaum sind bereits am welken, während Katharinas Baum Früchte trägt, die nur geerntet werden müssen. Obwohl die Hintergründe beider Leben unterschiedlicher nicht sein können, haben die Protagonisten viel gemeinsam. Für sie ist das Leben zu einer Spurensuche geworden. Der Boden, auf dem sie sich bewegen, ist zu Permafrost erstarrt. Mächtig und tief umschließt er all die Hoffnungen, Sehnsüchte, Reue und Ängste. Stürme, die durch Verluste gekennzeichnet sind, bringen die Baumkrone ins Wanken. Die Geschichte, die die beiden miteinander verbindet, zeigt auf, dass tief verwurzelte Bäume zwar in Schieflage geraten können, aber es immer einen Baum nebenan gibt, der auch die Last des anderen tragen kann.
Fazit: Der Debütroman „Betrunkene Bäume“ von Ada Dorian hat mich tief an meinen eigenen Wurzeln gepackt. Leise, um das Laub rascheln zu hören, aber zugleich stürmisch berührend und nachdenklich stimmend. Nicht nur der Titel schmiegt sich bedeutungsvoll in die Geschichte ein, sondern auch die Beziehung zwischen dem alten Mann und dem jungen Mädchen ist eine besonders tiefgründige Verwurzelung, an der man auch selbst wächst. Ein grandioser Roman über zwei Menschen unterschiedlicher Generationen, die ihre eigenen Wurzeln finden, ohne danach zwanghaft gesucht zu haben.
- Autorin: Ada Dorian
- Titel: Betrunkene Bäume
- Verlag: Ullstein
- Erschienen: 24.02.2017
- Einband: Hardcover
- Seiten: 272
- ISBN: 978-3-843-71472-3
- Besonderheit: Älter werden, Heimat, Entwurzelung, außergewöhnliche Freundschaft
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Wertung: 14/15 dpt







