Annemarie Andre – Nacktschnecken (Roman)

„Nacktschnecken“ erzählt die Geschichte einer Familie in Armut aus der Perspektive des jüngsten Kindes, der heranwachsenden Charlotte. Besonders im Fokus steht dabei die alleinerziehende Mutter, die täglich darum kämpft sich und ihre Kinder so würdevoll wie möglich durch die Zumutungen zu navigieren, die der prekäre soziale Status ihnen aufzwingt.

Die plötzliche Erkrankung der Mutter wird zur zusätzlichen Belastung. Nach der knapp überlebten Gehirnblutung bleibt bei ihr eine Behinderung zurück, worauf sie nun auch noch den Job verliert. Die fast erwachsenen Geschwister Charlottes, Anja und Marcel, fliehen aus der gemeinsamen Wohnung, um sich ein eigenes Leben aufzubauen. Dafür zieht der alkoholkranke Manfred als Freund der Mutter ein.

Die Erzählung erstreckt sich über mehrere Jahre, ohne dass sich dabei die Situation der Familie verbessert. Das Bild, das Annemarie Andre zeichnet, ist realistisch ohne nach Effekten zu haschen. Die Handlung wirkt nicht durchchoreografiert. Der Plot folgt keinem typischen Spannungsbogen. Vielmehr bewegt sich das Geschehen in einer steten Abwärtsspirale, ohne dass sich positive Auswege anböten. Der Platz, den Charlotte und ihre Familie einnehmen, ist unausweichlich festgelegt.

Was Andres Inszenierung so besonders berührend macht, ist, wie wenig larmoyant sie ihre Protagonisten agieren lässt.

„Ich wollte Mutter fragen, ob sie traurig war, aber ich
traute mich nicht. Zu Hause wurde nicht über Gefühle gesprochen. Die Dinge
waren nun mal so, wie sie waren.“
Seite 214

Um der gesellschaftlichen Demütigung entgegenzukommen, hat Charlottes Mutter eigene Mechanismen entwickelt. Ihr Verhalten ist schroff, das Ziel ist Abhärtung. So wirkt z.B. die Selbstbezeichnung „Billigheimer“ – dieses teils selbstironische, teils selbstverletzende Wortkonstrukt wie eine Vorwegnahme potentieller Beschimpfungen.

Charlotte, die die Situation gar nicht anders kennt, betrachtet diese als völlige Normalität. Wenn sie sich Ausflüchte erträumt, dann münden diese stets in Ernüchterung. Es gehört zu Andres geschickter Erzählweise, ihre Leser:innen als stille Zeugen miteinzubeziehen, die sehen und hören, was Charlotte widerfährt, ohne eingreifen zu können. Charlottes Erfahrungen werden zu schmerzhaften Widerhaken, die die Strukturen der systematischen Demütigung offenlegen.

Sehr präzise macht die Autorin die kleinen Zwischentöne im menschlichen Miteinander spürbar, die jemand wie Charlotte permanent an ihren Platz verweisen. Anhand zahlreicher Alltagsszenen wird sichtbar, wie die soziale Hierachie zu Ungunsten von Charlottes Familie immer wieder aufs Neue bestätigt und gefestigt wird. Andres Roman veranschaulicht eindeutig: Armut ist mehr als ein finanzielles Phänomen.

Dass die Erzählung mit ihrer ganzen Trostlosigkeit trotzdem so leicht erscheint, liegt vor allem an der Figur von Charlotte. Es ist ihr liebevoller, kindlicher Blick, der den Erzählton prägt. Und es ist ihre unverbrüchliche Resilienz, die die Geschichte vom Abgrund fernhält. Anders als der Bruder, der immer tiefer in Wut versinkt, widersteht Charlotte der Verzweiflung. Mit ihr hat Andre eine Figur entworfen, die sich irgendwie mit allem arrangiert und sich zugleich aber auch treu bleibt.

Es ist offensichtlich, dass der Roman von Andre keine Wohlfühllektüre ist und sein will und genau das zeichnet ihn aus. Die Ungerechtigkeiten, die das System für ihre Figuren bereit hält, sind keine Prüfungen, die es zu bestehen gilt, um zu einem Happy End zu gelangen. Die Macht, Dinge zu verändern, liegt außerhalb ihrer Reichweite. Mögliche Veränderungen scheitern bereits an der Basis an der Gleichgültigkeit derer, die das Potential zu Verbesserungen mitbrächten. In diesem Sinne ist der Roman nicht nur ein sehr authentisches Porträt einer „armen“ Familie, sondern auch eine sehr direkte Kritik an den Strukturen der Wohlstandsgesellschaft und derer, die sie tragen.

Inhaltlich trifft Andre mit ihrem wohltuend leisen Roman ein großes Thema der Stunde, dem sie auch sprachlich tadellos gerecht wird. In der völlig unangemessen geführten Debatte über Sozialleistungen und deren ständige Kürzungen schenkt sie deren Empfängern mit ihrer Inszenierung eine kluge Stimme. „Nacktschnecken“ stand auf der Liste der für die Hotlist 2025 nominierten Titel. Der Roman hätte es durchaus verdient gehabt in die nächste Runde zu kommen.

  • Autorin: Annemarie Andre
  • Titel: Nacktschnecken
  • Verlag: Muery Salzmann
  • Erschienen: Oktober 2024
  • Einband: Gebundene Ausgabe
  • Seiten: 220 Seiten
  • ISBN: 978-3990142615

Wertung: 13/15 dpt

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