Miriam H. Auer – Knochenfische (Buch)

Miriam H. Auer - Knochenfische (Cover © Edition Meerauge)«Die Menschen sind immer genauso, wie man sie nicht haben will. Sie gehen einem auf die Nerven und nur selten ans Herz. Letzteres machen sie nur, wenn sie es einem herausreißen wollen.»

Sätze wie dieser machen „Knochenfische“ zu einem Buch, das sich ins Gedächtnis brennt. Traurig, melancholisch, schwermütig, aber auch hoffnungsvoll und mit Humor erzählt die Österreicherin Miriam H. Auer eine komplexe Geschichte, die insbesondere von ihrer atemberaubenden Sprache lebt. Die Worte der Autorin sind wie Musik, eine wunderschöne Symphonie, die direkt ins Herz trifft. Musik ist ohnehin ein Thema, denn für die Charaktere macht sie das Leben ein bisschen leichter.

Im Mittelpunkt stehen vier Menschen, die ganz unterschiedlich und doch irgendwie gleich sind. Das Schicksal nimmt seinen Lauf, als in ihrem Wohnort, dem Argen-Tal, ein menschengroßer Eisblock vom Himmel fällt und die Zeit beschleunigt. Plötzlich wachsen Föten in schwangeren Bäuchen schneller heran, die Jahreszeiten wechseln zügiger und das Vieh kann schneller geschlachtet werden. Der Eisblock aber bleibt beständig – egal, welche Witterungsbedingungen herrschen, er schmilzt nicht.

Hinter der Sensation rund um den Eisblock versuchen die vier Menschen ihr Leben zu leben. Da ist Tabitha, eine junge Frau, im siebten Monat schwanger. Sie hat bereits eine Fehlgeburt hinter sich und weiß, dass auch dieses Kind am Ende nicht ihres sein wird. Sie will sich beweisen, dass sie in der Lage ist, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen, doch behalten kann sie es nicht. Früher war Tabitha ein Goth, heute trägt sie ihren schwarzen Lippenstift nur noch für sich selbst vor dem Badezimmerspiegel auf. Und doch ist sie der Tratsch des Dorfes, man tuschelt hinter ihrem Rücken. Nicht nur das gibt ihr das Gefühl nicht willkommen zu sein. Sie ist unglücklich, tieftraurig und sucht einen Ausweg aus ihrer Situation.

Ihr einziger Freund ist Hanno, der keine Unterarme hat, aber leidenschaftlicher Maler ist. Mit den Füßen und dem Mund erschafft er die buntesten Gemälde. Er hat die Angewohnheit, allem und jedem einen Namen zu geben – seinem Minipony genauso wie seinen Pflanzen und seinem Geschirr. Er glaubt, dass dann alles länger bleibt, muss aber erkennen, dass dies nicht immer der Fall ist.

Während der Berichte über den Eisblock fällt Tabitha Carl-Regen, der Pressesprecher, ins Auge. Ein kenianischer Eisexperte ist aber auch eine ungewöhnliche Mischung! Doch letztendlich sieht sie viel mehr in ihm, als seine dunkle Hautfarbe vor dem durchscheinenden Eis. Er selbst ist dem Alkohol sehr zugetan und möchte gemeinsam mit seinem rothaarigen Sohn und seinem Fuchs Winterschlaf in einem selbstgebauten Bunker halten. Im Prinzip will er sich aus der Wirklichkeit ausklinken, alles hinter sich lassen. Er hat «Angst vor Verlust durch Benennung» und macht daher genau das Gegenteil von Hanno: Er gibt nichts und niemandem einen Namen, nicht einmal seinem Sohn.

Das Bindeglied zwischen den dreien ist Harper, die im Argen-Tal ihren Tod vorgetäuscht hat und nun die drei anderen zu sich holt und hypnotisiert, damit sie ihre Geschichten erzählen und ihr nach Wiese-Boa, einer ehemaligen Kommune, folgen. Hier teilt sie ein lange gehütetes Geheimnis mit den drei jungen Leuten. Ihr größter Wunsch ist es, dazuzugehören, von ihnen gemocht zu werden und in ihnen Verbündete zu finden. Denn auch Harper ist unglaublich einsam und traurig.

Hinter all dem – zunächst ein wenig versteckt – stehen Kinder. Verschwundene Kinder, Kinder, die niemals welche sein durften, Kinder, die vergessen wurden. Miriam H. Auer setzt sich auf sehr besondere, philosophische Weise mit diesem extrem emotionalen Thema auseinander und deckt die Schicksale der Kinder nach und nach über die gefühlvolle Zeichnung der vier Hauptcharaktere auf. Indem wir Tabitha, Hanno, Carl-Regen und Harper kennenlernen, erhalten wir Einblick in das Leben oder vielmehr Nicht-Leben der Kinder. Obwohl der Fokus der Geschichte auf den vier Personen liegt, sind die Kinder in den leisen Zwischentönen allgegenwärtig und rücken so mit jeder Seite mehr in den Vordergrund. Was wir erfahren, ist erschütternd und bewegend. Und doch schafft es die Autorin, immer den Funken Hoffnung aufrecht zu erhalten, der den Charakteren das Weiterleben und den Lesern das Weiterlesen ermöglicht.

Ebenso allgegenwärtig und sanft in die Handlung eingewoben ist die Musik. Sie verbindet die Protagonisten und hilft – wie es auch bei vielen Menschen im echten Leben der Fall ist – so manche Situation besser zu meistern oder das Geschehen zu untermalen. Ob Iron Maiden, Twisted Sister, Monster Magnet oder Michael Jackson – die Bandbreite der zwischen den Zeilen erklingenden Lieder ist vielfältig. Während mancher Song nur erwähnt wird und als Hintergrundrauschen läuft, erhalten andere eine tiefere, sehr emotionale Bedeutung. „The Sound of Silence“, sowohl in der Originalversion von Simon & Garfunkel als auch in der von Disturbed, wird beispielsweise vor allem für Harper zu einem Herzenslied, das ihr bei der Bewältigung ihrer schwersten Zeit Kraft gibt.

Um ihre Geschichte zu erzählen, bedient sich Miriam H. Auer einer Sprache, die ihresgleichen sucht. Selten schafft es ein Autor, die Möglichkeiten der deutschen Sprache und die Macht der Worte dermaßen auszuschöpfen. Die Erzählweise nur zu beschreiben, wäre viel zu wenig, daher hier einige Beispiele, die für sich selbst sprechen:

«Ab und zu fällt mir eine Erinnerung aus dem Kopf in den Mund.»

«Ich habe Leute schon früher meistens eher satt als zum Fressen gern gehabt.»

«Hier habe ich mir in die eigene Tasche gelogen. Darin, unter Lippenstift, Kaugummi, Autoschlüssel, Taschentüchern und Sehnsucht, ist das Gelogene versteckt. Irgendwann werde ich mir eine neue Handtasche kaufen müssen.»

«Ich setze ein Lachen als zweites Gesicht auf und mich vor den Fernseher.»

«Ein Jahr wie im Flug. Uns ist beim Fliegen oft schlecht geworden.»

«Kriege toben anders als Kinder.»

So ließe sich ewig weitermachen. Fast jeder Satz in diesem Buch wäre es wert, konserviert zu werden. Auer nutzt ausnahmslos jede Besonderheit, die unsere Sprache zu bieten hat. Ob Doppeldeutigkeiten – sogenannte Teekesselchen – «Aber Hanno hat jetzt Farbe [zum Malen]. Tabitha und ich könnten sie im Gesicht vertragen», Neologismen (so erzeugt ein Fernglas «Verantwortungsnähe», aus Zusammenhängen wird eine «Zusammenhängebrücke» gebildet), humorige Wendungen («Wische ihm den Kaffeebart von der Oberlippe. Da hat er in aller Früh wohl wieder einmal am Mund vorbeigetrunken.»), die die Melancholie durchbrechen, oder das Spiel mit dem Ortsnamen Argen-Tal, meist nur Argen genannt (vieles liegt hier im Argen) – die Autorin hat ein unvergleichliches Sprachgefühl. Dabei erinnern manche Passagen fast ein wenig an den Dadaisten Kurt Schwitters.

Fazit: „Knochenfische“ ist ein wunderbar gefühlvolles, kluges und ebenso humorvolles wie melancholisches Buch, das Sprachliebhaber in Verzückungsstürme ausbrechen lässt. Ein Buch, das nachklingt, zum Nachdenken anregt und sich auf philosophische Weise mit einem schwierigen, höchst emotionalen Thema auseinandersetzt. Der Roman ist keine leichte Kost für zwischendurch. Er ist anders, sehr speziell und man muss sich auf die Erzählweise und die ungewöhnliche Themenbewältigung einlassen. Wenn man das tut, liest man hier einen ganz besonderen, literarischen Schatz, der eine wahre Verneigung vor der deutschen Sprache ist.

Cover © Edition Meerauge/Verlag Johannes Heyn

Wertung: 15/15 nicht schmelzende Eisblöcke

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