Sayaka Murata – Schwindende Welt (Roman)

In ihrem bereits 2015 erschienenen, jetzt im Aufbau-Verlag erstmals in deutscher Sprache aufgelegten Roman „Schwindende Welt“ führt uns die japanische Bestseller-Autorin Sayaka Murata in eine nicht genau benannte, nicht allzu weit entfernte Zukunft. Sie entwirft das Bild einer Gesellschaft, aus der man Liebe und Sex weitgehend verbannt hat. Diese gelten als soziale Störfaktoren, die dem Allgemeinwohl schaden. Nach dieser Logik wird Geschlechtsverkehr zwischen Eheleuten als anstößig empfunden und als Inzest bezeichnet. Und auch Romantik ist verpönt und wird bestenfalls nur auf Phantasie-Figuren projiziert. Auch Amane, Muratas weibliche Hauptfigur, folgt diesem allgemeinen Konsens.

Dass sie von ihren Eltern völlig abweichend von diesen Normen noch als ein „Kind der Liebe“ gezeugt wurde, was ihre Mutter nicht müde wird ihr zu erzählen, empfindet sie als einen Makel.

„Meine Eltern haben mich durch Geschlechtsverkehr gezeugt.“
„Wie bitte?“
„Findes du das eklig? Sie sind extra ins Krankenhaus gegangen, um das Verhütungsimplantat
entfernen zu lassen. Dann haben sie kopuliert und mich bekommen. […] Weißt du, manchmal denke ich, meine Mutter wollte mich mit ihrem Liebesfluch
belegen. Ich verliebe mich nämlich auch in echte Menschen. Als ich noch klein
war, hat sie mir diese ganzen alten Bücher gezeigt du mir eingeredet, ich würde
eines Tages heiraten, Inzest begehen und Kinder mit meinem Mann haben. Später
habe ich dann gelernt, was richtig ist, aber mir ist, als hielte ihr Fluch mich
noch immer in seinem Bann.“

Seite 104

Murata begleitet ihre Heldin über mehrere Lebensstationen, von der Schulzeit bis ins junge Erwachsenenleben. Sie lässt Amane als Ich-Erzählerin selbst berichten. In ruhiger, fast sachlich-distanzierter Sprache schildert die Erzählerin ihre inneren Kämpfe, da sie sich – allen gesellschaftlichem Ideal zum Trotz – regelmäßig verliebt und auch eine starke Libido entwickelt.

Amane leidet unter ihrem Sexualtrieb. Sie sucht Zuflucht in der Ehe als einen Raum frei von emotionalen und erotischen Ablenkungen. Zunächst geht der Plan auf. Ihr Ehepartner, ein Mann, den sie zunächst kaum kennt und zu dem sie nur wenig Zuneigung empfindet, wird ihr zum Freund. Doch erneut kommt ihr „die Liebe“ dazwischen. Amane verliebt sich in ihren Nachbarn Mizuhito und überredet ihn, eine intime Beziehung mit ihr einzugehen.

Aus dieser Konstellation entwickelt Murata eine der denkwürdigsten Passagen des Romans. Schonungslos explizit leitet Amane ihren Liebhaber zum Sex an. Eine Szene, in der die Komik der Situation ins Absurde, ja Tragische kippt. Denn es offenbart sich, wie sehr den Menschen in dieser Zukunftsvision nicht nur das körperliche Begehren, sondern auch der emotionale Bezug zur (eigenen) Körperlichkeit verloren gegangen ist.

Lange lässt uns Murata auf eine Wendung „zum Guten“, zurück zur eigenen Natürlichkeit, hoffen. Doch als Amanes Liebhaber Mizuhito die Verbindung abbricht, weil er die sexuelle Seite der Beziehung nicht länger erträgt, entscheidet sich Amane zu einem weiteren, drastischeren Schritt in Richtung vermeintlichen Seelenfriedens. Gemeinsam mit ihrem Ehemann siedelt sie nach Experimenta um, einer futuristischen Modellstadt. Hier  werden Kinder nur noch durch künstliche Befruchtung gezeugt und kollektiv von allen Erwachsenen großgezogen. Das Konstrukt „Familienleben“ ist abgeschafft, kein Kind soll wegen seiner Herkunft benachteiligt werden.

Murata stellt in ihrer Dystopie traditionelle Kernbegriffe der Gesellschaft auf den Prüfstand. Liebe, Sex, Elternschaft und Familie werden von ihren Figuren kritisch diskutiert. Die Umdeutung vertrauter Werte erscheint zunächst befremdlich, deckt zugleich aber auch Schwachstellen auf. Murata verlinkt ihre Utopie so geschickt mit der Gegenwart, dass ihr nicht nur ein sehr kritischer Blick auf Konsum und Kommerzialisierung gelingt, sondern auch ein intelligentes Infragestellen gesellschaftlich-etablierter Normen.

Der Narrativ der „romantischen Liebe“, der in der modernen Gesellschaft fest etabliert ist und durch Kunst und Medien immer wieder als einzig erstrebenswert in Szene gesetzt wird, wird im Roman als das Konstrukt entlarvt, welches er sozio-historisch betrachtet auch ist. Auch die klassische Ehe gerät ins Visier als ein Instrument, das Geschlechterungleichheit – und ungerechtigkeit etabliert und festigt.

Doch obwohl Murata einerseits an vertrauten Gewissheiten rüttelt, betont sie andererseits deren unverzichtbaren Wert für das Funktionieren einer empathischen Gesellschaft. Mit der Abschaffung jeglicher Form von Erotik und Liebe geht dem Einzelnen ein wesentlicher Teil seiner Individualität verloren. Das Leben wird auf seine reine Funktionalität reduziert. Zwischenmenschliche Bindungen lösen sich auf.

„Dieses Kohlfeld des Lebens unterschied sich nicht von den
Welten, die ich seit Langem kannte. Das Leben, das hier heranwuchs, würde
vergehen, und neues Leben würde an seine Stelle treten. Samenkörner würden
ausgesät, und neues Leben füllte die entstandenen Lücken. Bis in alle Ewigkeit,
wie auf einem Kohlfeld. Wir waren Exponate des Lebens, mehr nicht. Das war der
Lauf der Welt. Das Leben hatte immer recht.“

Seite 249/250

Der Ungeheuerlichkeit der im Roman geschilderten Entwicklung, die im Grunde nichts anderes ist als eine Abschaffung jeglicher emotionaler Bindungen, steht Muratas völlig unaufgeregter Erzählstil entgegen. Ein Kontrast, der sich im Laufe des Romans immer mehr verstärkt und Verstörung sowie Unbehagen erregt. Der Japanerin gelingt es meisterhaft die Perversion, die am Ende des gelungenen Gedankenexperiments steht, herauszuarbeiten.

Muratas Text lädt dazu ein, gesellschaftliche Normen und Veränderungen unter verschiedenen Aspekten zu betrachten. Er ist ein Versuch „Menschlichsein“ im Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur, zwischen Instinkt und Intellekt zu verorten. Subtil entzieht sich der Roman einer eindeutigen Interpretation und wird dadurch zur Mahnung, sich ultimativen Dogmen zu unterwerfen.

Große Empfehlung!

  • Autorin: Sakaya Murata
  • Übersetzerin: Ursula Gräfe
  • Titel: Schwindende Welt
  • Originaltitel: ‎ 消滅世界 Shōmetsu sekai
  • Verlag: Aufbau Verlag
  • Erschienen: August 2025
  • Einband: Gebundene Ausgabe
  • Seiten: 267 Seiten
  • ISBN: 978-3351042448

Wertung: 14/15 dpt

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