Ulrike Sabine Maier – Hinter tausend Stäben (Roman)

Interessant an „Hinter tausend Stäben“ ist auch die Entstehungsgeschichte. Ausgangspunkt des Schreibens wurde für die Autorin Ulrike Sabine Maier eine reale Begegnung. Die Lebenserzählung einer hoch betagten Bekannten ließ sie nicht los. Diese Frau berichtete von einer extrem lieblosen Kindheit. Zwar sei ihre Mutter Mitglied der Weißen Rose gewesen, doch in der Mutterrolle habe die Heldin keine gute Figur abgegeben. Dieser Ausblick auf ein offensichtlich sehr bewegtes und zugleich widersprüchliches Leben inspirierte Maier. Wer war diese Frau, die sich mutig für ihre Ideale einsetzte, selbstlos Menschenleben rettete, aber zugleich der eigenen Tochter keine Liebe entgegenbringen konnte? Maier nimmt diese Frage auf und stellt sie in einen sehr komplexen Kontext. Entstanden ist dabei ein beeindruckender Roman, der mehr ist als die Geschichte einer außergewöhnlichen Frau, mehr als die tragisch-traurige Erzählung einer lieblosen Kindheit.

„War sie nun gut oder schlecht?“, fragt Anna, ganz die
Dramaturgin, die in Protagonist und Gegenspieler denkt. […] Schlecht!, will ich
schreien, aber das ist nur die kleine Luise, die um sich schlägt, nicht die
abgeklärte, alte Frau, die um die Umstände weiß. Ich bleibe schweigsam und die
Antwort schuldig.

Seite 15/16

Inge, Tochter aus gutem, wohlhabendem Hause, ist klug und freiheitsliebend, aber auch psychisch labil. Sie will sich nicht in die üblichen Geschlechterrollen fügen. Gegen den Willen der Familie und ohne deren finanzielle Unterstützung studiert sie Medizin. Als sie ungewollt schwanger wird, flüchtet sie sich in eine lieblose Ehe, die nicht lange hält. Unter dem Druck der gesellschaftlichen und historischen aber auch persönlichen Ereignisse kann sie ihrer kleinen Tochter Luise nicht gerecht werden. Sie gibt sie abwechselnd ins Heim oder zu fernen Verwandten. Während Inge in den Kreis der Weißen Rose gerät, wächst Luise in einem Umfeld ohne Liebe und Zuwendung auf.

Zunächst einmal erweckt die Autorin einen dunklen Abschnitt der jüngsten Deutschen Geschichte zum Leben, mit gelungener Ausstattung und historisch belegtem Personal. Die Ereignisse von 1922 bis 1945, die der Handlung ihren konkreten Rahmen verleihen, werden von ihr in starken, atmosphärisch dichten Bildern inszeniert. Mutig verleiht sie auch historischen Figuren menschliche Nahbarkeit. Ihr Roman ist ein Buch der Stunde, das schmerzlich aufzeigt: Geschichte ist nie vorbei.

Vor allem aber bildet Maier nicht nur Geschichte, sondern vor allem Zeitgefühl ab. Mit ihrer Spurensuche stellt sie die Frage, welchen Anteil historische Ereignisse generell im Leben eines Menschen einnehmen. Wie viel Freiheit und Selbstbestimmung dem Einzelnen vor dem Hintergrund strikter gesellschaftlicher Strukturen bleiben. Und natürlich ist dieser Roman, der zwei Frauenschicksale in den Mittelpunkt stellt, eine feministische Erzählung. Denn Inge ist vor allem eine Frau, die sich gegen die Konventionen ihrer Zeit stellt, die an ihnen scheitert ohne aufzugeben, sich an ihnen verletzt und ihre Traumata und Wunden weitergibt, auch an Luise, die Tochter.

Um der Komplexität der Themen gerecht zu werden, setzt Maier auf einen nicht chronologischen, multiperspektivischen Erzählstil. Sie bewegt sich auf verschiedenen Zeitebenen, um die Kausalität der Ereignisse zu verbinden. Was in der Theorie kompliziert klingt, führt Maier mit geschickter Hand zusammen. Ihr Erzählen simuliert den natürlichen Erinnerungsfluss der Protagonistinnen. Souverän führt sie durch die Handlung und erzeugt einen Sog, von dem man sich als Leser:in bequem treiben lassen kann. Die hohe Affinität zu den handelnden Figuren erzeugt Empathie und Verständnis, und verstärkt das Identifikationspotential, das „Mitfiebern“ bei der Lektüre. Die erzählten Schicksale lassen einen nicht kalt. Die realen Gefahren, denen sie ausgesetzt sind, sorgen zusätzlich für Spannung.

Maiers Sprache trägt die Leser:innen durch die vielschichtige Handlung. Allein ihr unverwechselbarer Sound ist ein Ereignis, für das sich die Lektüre lohnt. Mal kraftvoll, mal zart, immer bildgewaltig, intensiv und präzise im Detail. Immer unmittelbar an ihren Figuren dran. Widersprüchliches erscheint nicht widersprüchlich, sondern einfach nur lebensecht.

„Manchmal“, sagt Hannes, „hast du diese Härte, da wird mir
ganz kalt. Und dann wieder bist du so fürsorglich und liebevoll mit den
Menschen, dass es einem das Herz zerreißt. So was in der Mitte wär ganz gut.“
Inge schluckt. „So für die Mitte bin ich nicht gut zu gebrauchen!“, sagt sie.

Seite 201

Der Autorin gelingt es die Ambivalenz ihrer Figuren mit großer Tiefe darzustellen. Die Verletzlichkeit der Protagonistinnen, aber auch deren Resilienz und Sehnsüchte berühren durch ihre zeitlose Universalität. Große Leseempfehlung!

  • Autorin: Ulrike Sabine Maier
  • Titel: Hinter tausend Stäben
  • Verlag: edition federleicht
  • Erschienen: September 2025
  • Einband: Gebundene Ausgabe
  • Seiten: 350 Seiten
  • ISBN: 978-3689350130

Wertung: 15/15 dpt

Teile diesen Beitrag:
Schreibe einen Kommentar

Hinweis: Mit dem Absenden deines Kommentars werden Benutzername, E-Mail-Adresse sowie zur Vermeidung von Missbrauch für 7 Tage die dazugehörige IP-Adresse, die deinem Internetanschluss aktuell zugewiesen ist, in unserer Datenbank gespeichert. E-Mail-Adresse und die IP-Adresse werden selbstverständlich nicht veröffentlicht oder an Dritte weitergegeben. Du hast die Option, Kommentare für diesen Beitrag per E-Mail zu abonnieren - in diesem Fall erhältst du eine E-Mail, in der du das Abonnement bestätigen kannst. Mehr Informationen finden sich in unserer Datenschutzerklärung.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Ähnliche Beiträge

Du möchtest nichts mehr verpassen?
Abonniere unseren Newsletter!

Total
0
Share