Gary Victor – An der Kreuzung der Parallelstraßen (Buch)

Ein Blick in den Abgrund

Haiti am Ende des 20. Jahrhunderts. In Port-au-Prince ist Éric stinksauer, denn der Beamte hat aufgrund eines Strukturanpassungsprogramms seine Arbeit verloren und ebenso seine Frau Salomé, der er finanziell nichts mehr bieten kann. Schuld ist für ihn Mataro, der Finanzminister, also sinnt er auf Rache und macht sich auf den Weg, Mataro zu erschießen. Éric erwischt den Minister mit einem Transvestiten, den er kurzerhand tötet, doch dann teilt ihm Mataro mit, dass nicht er, sondern Ti Nestor, der Hexer des Präsidenten Haitis, der wahre Schuldige sei. Mataro führt Éric zu einem Voodoo-Tempel, wo Ti Nestor eine Zeremonie leitet, an der sich Éric derart berauscht, dass er zum Schluss dem Präsidenten ins Gesicht pinkelt. Er erschießt Ti Nestro und muss fliehen, denn natürlich kann sich der Präsident Haitis nicht alles gefallen lassen.

„Die Spiegel sind blind geworden, damit wir klarer sehen. Wir werden klarer sehen, damit wir den Machenschaften der Bourgeoisie ein Ende bereiten können, die uns den letzten Tropfen Blut aussaugt, uns das Hirn leert und unsere Augen mit dem Dreck ihrer Verachtung zukleistert.“

Am nächsten Tag steht eine Einheit der CIMO, eine Eingreiftruppe der Polizei, vor seiner Tür. Die Flucht gelingt, aber die Ereignisse überschlagen sich landesweit. Alle Spiegel erblinden, Menschen gehen rückwärts und selbst die Schrift mu hcis trhek. Dann erfährt Éric im Radio, dass sein Cousin an der Kreuzung der Rue Villate und der Rue Darguin ermordet wurde. Aber wie kann das sein, es sind Parallelstraßen? Es geht immer weiter: Eine Heilige Statue erweckt zum Leben und richtet ihrerseits Unheil an, während der Erwählte, der wahre Machthaber im Land, sogar den lieben Gott ermorden lässt. Noch Fragen?

Herzlich willkommen bei Gary Victor, der den vorliegenden Roman vor einem Vierteljahrhundert veröffentlichte und mit dem „Prix du livre insulaire“ im Jahr 2003 ausgezeichnet wurde.

Dystopie und Abrechnung mit der Heimat

Gary Victor, geboren 1958 in Port-au-Prince, ist in seiner Heimat einer der populärsten Autoren, der auch in Deutschland eine Fangemeinde hat. Diese verdankt er vornehmlich seiner Inspektor-Dieuswalwe-Azémar-Krimireihe, die aus den Romanen „Schweinezeiten“, „Soro“, „Suff und Sühne“ sowie „Im Namen des Katers“ besteht. Die Titel lassen bereits Übles erahnen, zumal Azémar an Wahnvorstellungen und zu viel Alkohol leidet, und ja, mit seinem Heimatland kann der Autor nicht allzu viel anfangen. Er verzweifelt – gelinde formuliert – an den inneren Zuständen, die geprägt sind von jeweils ausufernder Bandenkriminalität, Armut, Hoffnungslosigkeit und Korruption bis hinein in höchste Staatsämter. Sein Protagonist im vorliegenden Fall („À l’angle des rues parallèles“ erschien 2000 im Original) ist ein Beamter, der zum Serienmörder eruptiert. Dieser steht – so Victor in seinem Vorwort für die deutschsprachige Ausgabe – „für den Wahnsinn in allen Bereichen der haitianischen Gesellschaft, wo die Dinge sich an den Menschen rächen, weil wir sie in unserer Unfähigkeit, die Realität zu begreifen, sich selbst überlassen.“

„Dreckiges, erbärmliches Land, dessen Dreckigkeit und Erbärmlichkeit aber nur zu verzeihlich sind, denn ein Land hat keine Seele, kein Bewusstsein. Es ist nur, was die Menschen daraus machen, es spiegelt nur die Seele einer Nation wider.“

Schon der widersprüchlich klingende Titel zeigt, dass es in Victors härtestem Roman zur Sache geht und dies auf albtraumhaft-surreale Weise. So erblinden alle Spiegel, die Statue des Heiligen Petrus wird lebendig, eine Schubkarre fährt selbständig und überall brilliert der Wahnsinn. Es wundert somit nicht, dass selbst Gott in diesem ganz und gar gottlosen Land sterben muss. Regisseure wie Tarantino oder die Coen-Brüder dürften an einer Verfilmung ihre Freude haben. Fans des Autors, die seine Azémar-Reihe kennen, werden immerhin eine (sehr grobe) Vorahnung davon haben, was sie erwartet. Der Begriff Transzendenz trifft es sehr gut. Wer einen apokalyptisch-irrwitzigen Höllenritt nicht scheut, darf zugreifen. Landesgeschichte einmal ganz, ganz anders.

  • Autor: Gary Victor
  • Titel: An der Kreuzung der Parallelstraßen
  • Originaltitel: À l’angle des rues parallèles (2000). Aus dem Französischen von Peter Trier
  • Verlag: litradukt
  • Umfang: 136 Seiten
  • Einband: Taschenbuch
  • Erschienen: Oktober 2025
  • ISBN: 978-3-940435-52-1
  • Produktseite

Wertung: 11/15 dpt

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