
Schottland, 1900. Ein Sturm fegt über das abgelegene Küsten-Dörfchen Skerry, und er bringt als Geschenk einen kleinen Jungen mit, der an Land gespült wird. Dass allen Dorfbewohnern fast die Augen aus dem Kopf fallen, als der Fischer Joseph das Kind durch das Unwetter zum Pfarrhaus trägt, liegt auch daran, dass vor vielen Jahren ein Kind aus dem Dorf bei einem solchen Sturm verschwunden ist. Und der gerettete Junge dem verstorbenen Kind sehr ähnlichsieht. Vor allem für Dorothy, die Mutter des kleinen Jungen Moses, der damals im Sturm verschwand, ist der Anblick von Joseph mit dem Jungen ein Schock: „Er geht mitten auf der Straße. Als sie erkennt, was er trägt, entfährt ihr ein Schrei, wie von einem verletzten Tier.“
Die Geschichte, die Julia R. Kelly in „Das Geschenk des Meeres“ erzählt, ist nah an der Realität des Dorflebens um 1900 – und trägt zugleich märchenhafte, mythische Züge. Kann es sein, dass ein Kind, das Jahre zuvor im Meer verschwand, wieder zurückkehren? Hat das Meer genommen und Jahre später wieder zurückgegeben? Schließlich beginnt der Roman mit einigen Gedichtzeilen von William Butler Yeats: „Komm hinfort, o Menschenkind! Auf zu Wasser, Wildnis, Wind mit einer Fee an deiner Hand, denn auf der Welt gibt es mehr Tränen, als je ein Kind verstand.“ Eine der Hauptrollen hatin der Geschichte dabei oft das Wetter und die Natur, die die Menschen umgibt und eine ganz eigene Atmosphäre schaffen.
Der Dorftratsch geht los, denn bevor Moses damals verschwand, sah man Fischer Joseph und Dorothy bei einem Streit am Strand. Und überhaupt: Zwischen den beiden war eine seltsame Beziehung, die sich vor den Augen und Ohren des Dorfes abspielte. In einem steten Wechsel zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit erfahren die Lesenden die Geschichte der beiden. Wie Dorothy als junge, unverheiratete Lehrerin ins Dorf zieht und dort mit ihrer Arroganz und Bildung nicht gut gelitten ist. Wie Joseph sich in sie verliebt, aber natürlich nicht mit ihr darüber spricht. Und wie Dorothy denkt, dass Joseph ganz sicher Agnes heiraten wird, bei deren Familie er regelmäßig zum Essen eingeladen ist. Es ist das Schicksal derjenigen, die Schweigen, die nicht miteinander reden, so dass sie mit falschen Vermutungen dann auch falsche Entscheidungen treffen. Dorothy wendet sich verletzt von Joseph ab und heiratet William, der noch bei seiner Schwester lebt. Als sie ein Kind bekommt, dauert es nicht lange und William verlässt das Dorf. Dorothy lebt mit ihrem Kind alleine weiterhin in Skerry, Joseph bleibt der ewige Junggeselle.
Erst mit dem Fund des geretteten Jungen brechen die verknöcherten Strukturen in den Menschen und im Dorf auf. Dorothy nimmt den Kleinen auf, bis dessen Herkunft geklärt ist, dabei beschäftigt sie sich gezwungenermaßen mit ihrem verschwundenen Kind, dessen Leichnam nie gefunden wurde, und den Ereignissen der Vergangenheit. Im Dorf beginnen viele, ihr eigenen Verhaltensweisen und Motive zu hinterfragen, bei einigen kommen Schuldgefühle über ihre Taten auf. Dies alles geschieht langsam und wird ruhig in einem schönen Erzählfluss von Julia R. Kelly erzählt. Zum Ende hin (das natürlich hier nicht verraten wird) werden alle Fäden noch mal aufgenommen und jede Geschichte allerdings etwas sehr schnell abgeschlossen.
Fazit:
„Das Geschenk des Meeres“ von Julia R. Kelly ist melancholisch, gefühlvoll und immer wieder fließt eine mythische Stimmung mit ein. Dazu stürmt es über die schottische Küste hinweg, das Leben ist voll alltäglicher Dramen, das Schicksal abhängig von den Missverständnissen und falschen Entscheidungen. Ein Roman für Herbstabende über Verlust, Liebe und Schuld – dramatisch, traurig und trotzdem ein Wohlfühlbuch.
- Autorin: Julia R. Kelly
- Titel: Das Geschenk des Meeres
- Originaltitel: The Fisherman’s Gift
- Übersetzerin: Claudia Feldmann
- Verlag: Mare
- Erschienen: 07/2025
- Einband: Hardcover
- Seiten: 352
- ISBN: 978-3-86648-748-2
- „Das Geschenk des Meeres“ von Julia R. Kelly bei Mare

Wertung: 13/15 dpt






