“Raubvogel” ist wahnsinnig gut. Stell dir vor: Eigentlich willst du bloß die erste Seite lesen und dann etwas anderes machen, da ist schon das erste Kapitel rum – du stehst in deinem Zimmer, klappst das Buch zu, klappst es wieder auf, setzt dich hin und liest es zu Ende.
Das erste Kapitel lässt dich staunen drüber, wie schön es sein könnte, ein Kind zu sein, wie schön es sein könnte, ein Erwachsener zu sein, wie schön es sein könnte, ein Leben zu führen – aber, ja, wo das Glück groß ist, ist das Unglück oft noch größer; der ganze tragische Scheiß lässt nicht lange auf sich warten und schlägt schlimm zu. So ist es im Leben. So ist es im Buch.
Der Klappentext klingt nach einem quälenden Drama für Menschen, die sich gerne mit so etwas auf die Folter spannen. Die Erzählung ist ganz anders, unbeschwert, obwohl alles so schlimm und kaum auszuhalten ist. Kurz gesagt, die Erzählung ist ganz arg gelungen. Aufs Regal damit zwischen “Wir fünf und Jumbo” und “Eine Braut für Dino Rossi” – drei Bücher aus unterschiedlichen Zeiten und Ländern und alle drei herausragende Vertreter ihres Genres.
“Raubvogel” spielt schätzungsweise in den späten 1980er Jahren. Auf das Jahrzehnt wird nur dezent verwiesen, über die “Masters”, und alles könnte eigentlich genauso gut zwanzig Jahre später spielen. Allgemein wird abgesehen von dieser einen Ausnahme auf popkulturelle Anspielungen und Namensnennungen verzichtet. Gleich auf der ersten Seite mit ’nem Prominamen glänzen müssen viele, wirklich viele erfolgreiche Romane. Geradezu zwanghaft wirkt’s oft schon und normalerweise handelt es sich immerhin um ein zuverlässiges Merkmal für mangelhafte Qualität. Die Zeit wird diese Bücher ganz unbemerkt aus den Gedächtnissen verschwinden lassen. Für den “Raubvogel” hingegen kann man nur hoffen, ihm möge späte Ehre zuteil werden. Wie spät es auch werden mag.
Cover © Luftschacht Verlag
- Autor: Benjamin Tienti
- Titel: Raubvogel
- Verlag: Luftschacht
- Erschienen: 08/2009
- Einband: Hardcover
- Seiten: 105
- ISBN: 978-3-902373-46-5
Wertung: 14/15 dpt