Der Mittdreißiger Torsten Brettschneider staunt nicht schlecht, als er erfährt, dass er soeben durch den Tod seiner Tante Lillemor einen Bauernhof im mittelschwedischen Gödseltjorp inklusive vierzig Hektar Nutzfläche geerbt hat. Eigentlich verdient er mit seiner derzeitigen Arbeit gutes Geld, doch sein Erbe ist letztendlich der finale Impuls, den er benötigte, um sein doch recht eingefahrenes Leben umzukrempeln. Er kündigt den Job und beschließt, den Hof zu übernehmen und nach Schweden zu ziehen. Seiner Freundin Tanja schmeckt das überhaupt nicht, und Torsten weiß nicht, ob er entsetzt oder amüsiert darüber sein soll, dass sie ausgerechnet mit seinem Therapeuten in Richtung Côte d’Azur durchbrennt. Nun gut, ein Grund mehr oder gar der endgültige Anlass, die Vergangenheit und die ätzende Gegenwart hinter sich zu lassen und einfach nach vorn zu schauen. Ab nach Schweden, den Hof auf Vordermann bringen und eine neue Karriere als Schriftsteller beginnen. Er kauft sich einen alten VW-Bus, packt seine nötigsten Sachen und los geht’s. Torsten 2.0. Brettschneider reloaded. Auf Nimmerwiedersehen, Deutschland, hej Sverige!
Unterwegs nimmt er den dauerbedröhnten Rainer, einen völlig verpeilten Sozialpädagogikstudenten, der in Schweden ein Festival besuchen möchte, per Anhalter mit. Und damit beginnt eine Aneinanderreihung der Schrägheiten. Die finden ihren Höhepunkt, als Torsten – vorerst allein – in Gödseltjorp ankommt. Denn der Hof ist nicht leerstehend. Zum einen wohnt dort der feindselige Bjørn Hakansen, ein norwegischer ehemaliger Widerstandskämpfer, zum anderen tauchen dort noch weitere bizarre Gestalten auf, unter anderem Gerd, Torstens Vater. Der ist mittlerweile mit einer sehr sonderbaren Flamme zusammen, die ein “spirituell offenes” Leben pflegt.
Von wegen Landidylle und Postkartenatmosphäre! Torsten Brettschneider erlebt hier die totale Elchscheiße, die absolute Hölle des Wahnsinns, den wahrgewordenen Super-GAU. Und bald wird er den Grund erfahren, weswegen ihm in diesem skandinavischen Dörfchen der Stress pur erwartet…
Vordergründig ist “Elchscheiße” ein Comedy-Roman durch und durch, denn die Charaktere sind derart verschroben, skurril und zuweilen over the top, dass man mindestens am Dauergrinsen ist. Lars Simon weiß hier allerdings nicht nur durch diese Zusammenrottung ulkiger Figuren zu punkten, sondern auch mit einer wahrlich durchgeknallten Story, die tonnenweise Situationskomik beinhaltet. Und so sehr man über die noch so dusseligen oder fiesen Leutchen in diesem Roman den Kopf schütteln muss, so sehr gewinnt man sie auch lieb – gerade weil sie so sind, wie sie sind: Unperfekt und sie selbst. Oder wie Sprecher Holger Dexne es ausdrückt: »Den liebenswert skurrilen Figuren (…) möchte man gleichzeitig in den Hintern treten und sie in den Arm nehmen.«
Inmitten all der Komik finden sich auf inhaltlicher Ebene allerdings zahlreiche schöne emotionale und nachdenkliche Momente – besonders dann, wenn Torsten mal zur Ruhe kommt und sinnieren kann. Ebenso ist es schön zu sehen, wie in brenzligen Situationen Solidarität und gar Freundschaft eine Wendung zum Guten bringen können, wenn man sich nur darauf einlassen mag – und das gibt dem Ganzen etwas Warmherziges und zutiefst Sympathisches mit auf den Weg. Lars Simon flicht in die Story obendrein noch herrlich philosophische Gedankengänge ein und ergeht sich stellenweise in gar anspruchsvolle und schöngeistige Formulierungen, was “Elchscheiße” eine zusätzliche intellektuelle Komponente verleiht, die man in einem Comedy-Roman nur selten in dieser Form vorfindet. Somit bekommt der Leser sowohl für Hirn als auch für Herz und natürlich die Lachmuskeln Kraftstoff geliefert.
Holger Dexne, den man gelegentlich auch als Schauspieler im Fernsehen wahrgenommen haben dürfte, leistet mit seiner dargebotenen Lesung exzellente Arbeit und verausgabt sich hierbei völlig. Die Art und Weise, wie er den einzelnen Charakteren ihre Stimme verleiht, macht schlichtweg Spaß – da tut es nicht weh, wenn die ein oder andere Figur dadurch etwas klischeehaft rüberkommt wie etwa der lispelnde Fistelstimmentankwart auf der Fahrt nach Gödseltjorp oder eben der gechillte, näselnde Rainer, denn es passt letztendlich perfekt zum gnadenlos überzeichneten Erzählstil, es ist das akustische Augenzwinkern. Normalerweise ist diese Comichaftigkeit mittlerweile das Metier solcher Sprecher wie Christoph Maria Herbst, Christian Ulmen, Stefan Kaminski oder Jens Wawrczeck, doch Dexne gelingt es beinahe mühelos, qualitativ zu ebenjenen Kollegen aufzuschließen.
Wer’s lustig und gerne auch schrill mag, aber den Anspruch nicht missen müssen möchte, ist mit “Elchscheiße” bestens bedient.
Cover © GoyaLiT
- Autor: Lars Simon
- Titel: Elchscheiße
- Teil/Band der Reihe: 1
- Label: GoyaLiT/Jumbo Verlag (Buch erschien bei dtv)
- Erschienen: 23.04.2014
- Sprecher: Holger Dexne
- Spielzeit: 3:38 Stunden auf 3 CDs
- ISBN: 978-3-8337-3300-0
- Sonstige Informationen:
Gekürzte Lesung
Produktseite beim Label
Inklusive begleitendem “Elchscheiße-Schwedisch-
Kompendium” im Booklet
Wertung: 13/15 dpt