Peter Lindbergh. A Different Vision on Fashion Photography


lindbergh_contemp_fashion_fo_int_2d_05793_1606151502_id_1059487Die renommierte Kunsthal Rotterdam feierte am 10. September 2016 die Premiere der ersten umfassenden Retrospektive des deutschen Fotografen Peter Lindbergh. Die Ausstellung “A Different Vision on Fashion Photography” zeigt über 220 Fotografien des legendären Modefotografen. 25 Designer, die zum Teil von Beginn ihrer Karriere mit Lindbergh zusammenarbeiteten, haben die Exponate mit persönlichen Kommentaren versehen. Auch originale, edle Fashion aus den Haute-Couture-Kollektionen dieser Designer, Polaroids, Video-Installationen, die Filme und Interviews Lindberghs zeigen, werden zu sehen sein. “A Different Vision on Fashion Photography”, vom Kurator Thierry-Maxime Loriot zusammengestellt, erzählt anhand von Lindberghs Werken die Geschichte der Mode der letzten Jahrzehnte. Und dabei wird deutlich, wie sehr Lindbergh diese mit seiner eigenen Vision von Modefotografie mitgeprägt hat.

Der TASCHEN Verlag hat zeitgleich zu dieser Ausstellung, die nach der Weltpremiere in Rotterdam international gezeigt werden wird, einen grandiosen, großformatigen, mehr als 500 Seiten schweren Begleitband herausgebracht. “A Different Vision on Fashion Photography” zeigt über 400 Lindbergh-Fotografien aus einer Schaffensperiode der letzten vier Jahrzehnte. Neben den beeindruckenden Aufnahmen liefern Emily Ansenk, die Direktorin der Kunsthal Rotterdam, in einem informativen Vorwort sowie der Kurator Thierry-Maxime Loriot in einem umfassend kenntnisreichen Essay Einblick in und Hintergrund zu Lindberghs Schaffen, das die Modefotografie revolutionierte. Zu erwähnen ist, dass die Texte in Deutsch, Englisch wie auch in Französisch vorliegen.

»Von 9 bis 5 Uhr bin ich verliebt. Dann geht’s nach Hause«,

lindbergh_fashion_fo_int_open_0064_0065_05793_1607261221_id_1069609sagt Lindbergh verschmitzt in der ARD-Dokumentation “Deutschland, deine Künstler”. Diese leidenschaftliche Liebesbekundung für die Arbeit soll nicht näher analysiert werden, gilt Lindbergh in der Modefotografie doch als “der Mann, der die Frauen liebt”. Beschäftigt man sich mit Lindberghs Karriere, erinnert man sich unweigerlich an das legendäre “Weiße Hemden”-Foto. 1988 steckte Lindbergh Linda Evangelista, Karen Alexander, Christy Trulington, Estelle Lefébure, Tatjana Patitz und Rachel Williams kühn nach eigenem Gusto in weiße Hemden und fotografierte sie als unbeschwert albernde Gruppe am Strand von Santa Monica. Dieses Bild, das die Modefotografie ‘back to the roots’ schoss und zugleich mit allen Regeln der Hochglanzwerbung und des mondänen Make-Up-Overkills der 80er Jahre brach, wurde zunächst von allen Zeitschriften abgelehnt. Als die knallharte Anna Wintour das Foto entdeckte, erkannte sie sofort den neuen, frischen Geist sowie das Potential, das in dem bis dahin relativ unbekannten Lindbergh steckte. Anna Wintour, vor der – das wissen wir spätestens seit der Doku “The September Issue” – die Modewelt zittert, kooperierte von da an immer wieder mit Lindbergh und ließ ihm alle Freiheiten. Das “Weiße-Hemden-”Foto gilt inzwischen als die bedeutsamste Modefotografie der 1980er Jahre.
Im Januar 1990 erschien auf dem Cover der britischen Vogue ein ähnliches Foto. Lindbergh hatte fünf junge Models in New York zu einem Shoot gebeten. Naomi Campbell, Linda Evangelista, Tatjana Patitz, Christy Turlington und Cindy Crawford schauen wie auf einem Schnappschuss einer Mädels-Shopping-Tour siegesgewiss apologetisch in die Kamera. Dass sie dabei eine Menge Haut zeigen und Mode präsentieren, tritt völlig in den Hintergrund. Kaum geschminkt, wenig gestylt, schlicht und völlig natürlich wirkt das Foto, das diese Mädels zu Supermodels, zu wahren Ikonen werden lassen sollte. Und das eine ganz neue Ära in der Modebranche, die Frauen bis dato vornehmlich als wandelnde Kleiderständer behandelte, einläutete.

“Schwarz-Weiß geht durch die Haut”

lindbergh_fashion_fo_int_open_0278_0279_05793_1607261221_id_1069654Für den so überaus erfolgreichen Werbe- und Modefotografen Lindbergh war die Mode an sich immer das nebensächlichste Detail. Lindeberghs Fotografien zeigen Menschen – zumeist auf grobkörnigen Schwarz-Weiß-Aufnahmen, selten in Farbe, vergleichsweise wenig nackte Haut, vornehmlich Frauen, wenig Männer, und er lässt dabei gern die Grenzen der Geschlechter verschwimmen. Das androgyne Moment reizt Lindbergh nicht nur, wenn er grandiose Aufnahmen von Transgender-Künstlern macht. Lindbergh ist stets auf der Suche nach dem Kern, nach der Seele seiner Models und dem immer inhärenten Dazwischen. So kann man generell seine Vorliebe für das Geschichtenerzählen – Lindbergh hat ganze Fotostrecken für Zeitschriften geschossen, die einer einzigen Story folgten – nicht nur als Hommage an den Film sehen, sondern darin auch die Lust erkennen, etwas zu veranschaulichen, ohne konkret festgelegte Stellungen zu beziehen. Lindberghs Fotografien zeigen Menschen – Stars wie auch Unbekannte – die wenig inszeniert, nicht selten in einer Bewegung, einem Ausdruck festgehalten, vermeintlich simpel immer etwas sehr individuell Hintergründiges aussagen. Ein wenig über den Fotografen, ein wenig über das Model. Und selbstverständlich in der Interpretation stets etwas über den Betrachter.

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Purismus

Lindbergh, der ‘Glamour’-Fotograf, gilt zugleich als der Purist der Szene. Er bevorzugt den Minimalismus, mag keine Retusche, verabscheut die immer dekadenter werdende Nachbearbeitung durch Photoshop. »Dagegen gehe ich in den Nahkampf«, sagt Lindbergh in einem Interview und greift damit zugleich das aktuelle Schönheitsideal der ewigen Jugend an. Und wer könnte für diese Schlacht besser gerüstet sein als der Mann, der fast tagtäglich die schönsten Frauen der Welt ablichtet. Lindbergh, den die Kunst Zeit seines Lebens faszinierte, der aber seinen ganz eigenen, individuellen Weg zu Malerei, Bildhauerei, Tanz, Film und Fotografie fand, will die Menschen an die Schönheit erinnern, an das Natürliche, an das Menschliche. Und wie Karl Lagerfeld feststellt, gelingt ihm das, wie kaum einem anderen: » … in our fast-moving age one has to express one’s vision of the world in the fraction of a second. But few can accomplish this in such a strong and definitive way as Peter Lindbergh.«

Leidenschaft und Marktwert

peter_lindbergh_londonmay2016_stefan_rappo_b_1606151459_id_1059467»Hier liegt ein Mann, der sein Talent bei der Arbeit entdeckt hat«, hat Lindbergh einmal gesagt, wünscht er sich als Inschrift auf seinem Grabstein. Doch glücklicherweise denkt der 71-Jährige noch nicht einmal an die Rente. Viel lieber möchte er wie Helmut Newton bis zum letzten Atemzug fotografieren. Und so hat der Mann, der angeblich kaum mehr als drei Stunden Schlaf am Tag benötigt, erst kürzlich die Hollywood-Ausgabe für “W”, hundert Seiten für die Oktober-Ausgabe der italienischen “Vogue” sowie den Pirelli-Kalender 2017 geschossen. Dies ist bereits seine dritte Zusammenarbeit mit dem italienischen Reifenhersteller, und auch 2017 wird es nur wenig nackte Haut zu sehen geben. Der “Vogue” verriet Lindbergh, dass die Fotos – u. a. werden Lupita Nyong’o, Kate Winslet, Penélope Cruz, Helen Mirren, Nicole Kidman, Uma Thurman und Julianne Moore im Kalender des italienischen Reifenherstellers zu sehen sein – eine Liebesode an die Frauen sei, die er wirklich kennt und mag: »Everyone in this calendar, at one point in my life, I wanted to marry, and I didn’t have the balls to ask them.« Der viel gefragte Meister, der sich seit den ersten Erfolgen stets seines Marktwertes bewusst war, steckt voller Energie und Elan. Und wird ganz sicher noch über viele Jahre unvergessliche Schaumomente vor seiner Linse für die Ewigkeit festhalten.

Bis zum 12. Februar 2017 kann man die Lindbergh-Retrospektive mit noch nie gezeigtem Material in Rotterdam besuchen, danach geht die Ausstellung auf Welttour. Vor allem die Nostalgie der 90er Jahre wird dabei in den immer aktuellen, dennoch zeitlosen Aufnahmen zu bewundern sein. Das Buch zur Ausstellung “A Different Vision on Fashion Photography” wird nicht nur Mode-Aficionados begeistern.

Cover und Bildmaterial © TASCHEN

  • Titel: Peter Lindbergh. A Different Vision on Fashion Photography
  • Verlag: TASCHEN
  • Erschienen: 15.09.2016
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 524
  • ISBN: 978-3-8365-5282-0
  • Sprache: Mehrsprachige Ausgabe: Englisch; Französisch; Deutsch
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite
    Erwerbsmöglichkeiten

Wertung: 15/15 Kameras


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