Sechs Jahre ist es inzwischen fast auf den Tag genau her, dass es an der Nordostküste Japans zu einer Verkettung von fatalen Ereignissen kam. Am 11. März 2011 bildete ein Erdbeben den Auslöser für einen Tsunami, der das Opfer von 18.500 Menschen forderte. Doch das Unglück endete damit nicht. Der Tsunami führte im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi zum Stromausfall. Reaktoren explodierten. Radioaktives Material wurde freigesetzt. Es kam zum Super-GAU. 80.000 Menschen wurden evakuiert. Um Fukushima herrscht seitdem im Umkreis von 20km entsetzliche Leere.
Das Fotografenkollektiv Carlos Ayesta und Guillaume Bression machte es sich noch im Dezember 2011 zur Aufgabe die Umstände um Fukushima nicht nur aus nächster Nähe zu dokumentieren, sondern sie auf künstlerisch-empathische Weise auch an all jene heranzutragen, welche die teils sichtbaren, teils unsichtbaren Konsequenzen nur aus sicherer Ferne verfolgen. Das Ergebnis dieses sechs Jahre andauernden Projekts sind sechs kurze Fotoserien mit thematisch unterschiedlichen Schwerpunkten, die sich in „Retracing Our Steps – Fukushima Exclusion Zone 2011-2016“ zu einem ausdrucksstarken Ganzen zusammenfügen. In Farbfotografien fangen Ayesta und Bression geradezu postapokalyptische Zustände ein. Die Polychromie ihrer Aufnahmen verweist dabei deutlich und bewusst auf die Aktualität der erfassten Umstände. Sie zeigen neben den primären Konsequenzen der Katastrophe vor allem wie der Verfall Besitz von Gebäuden, Fahrzeugen, Straßen und ganzen Ortschaften ergreift, hat sich der Mensch erst von ihnen losgesagt. Die Zeitspanne des Projekts, allem voran die Tatsache, dass ihre Aufnahmen bis in die Gegenwart reichen, verweist dabei einmal mehr auf die Permanenz der abgebildeten Situation.
Eingeleitet wird in das Werk von Ayesta und Bression selbst. In knapper Form erläutern sie ihre Beweggründe für das gemeinsame Projekt, wie das erste Foto entstand und was für die Form ihrer Arbeit bestimmend war. Sämtliche Texte im Buch sind dabei in dreifacher Ausfertigung vorzufinden: zunächst auf Englisch, anschließend sowohl auf Französisch als auch auf Japanisch. Nach einigen einführenden Fotographien, die nicht näher zugeordnet werden, deren Zuordnung nach beendigter Lektüre jedoch leichtfällt, eröffnet das Buch mit der Serie „A No Man’s Land“. Jeder Serie sind wenige Sätze vorangestellt, die den jeweiligen Grundgedanken kurz erläutern.
Die Serie „A No Man’s Land“ zeigt, so Ayesta und Bression, ihre eindrucksvollsten Impressionen im menschenverlassenen Raum der Sperrzone. „Time has stood still“1 , heißt es zu diesen Bildern, die sich auf einen Raum von 1000 Quadratkilometern um Fukushima herum konzentrieren. Ihre Fotografien zeigen unter durchweg dunklem Himmel die Außenfassaden verfallender, teils zusammenbrechender Häuser und Geschäfte sowie liegengebliebene Fahrzeuge, die als Relikte einer vergangenen Zivilisation aus der Dunkelheit hervorragen.
Die zweite Serie trägt den Titel „Bad Dreams“ und setzt sich mit Radioaktivität als unsichtbarem und unfühlbarem Phänomen auseinander. Die Bilder sind mit fiktionalen Zügen versehen, welche die Unsichtbarkeit aufheben sollen. „[F]iction reveals reality“, lautet hier der Leitspruch. Ein Fisch in einer Blase, oder eine weiße Spur, welche fadenartig die Atmosphäre durchdringt, oder sich wie Frischhaltefolie über verbliebene Gegenstände legt, bilden hier die Realität unterstützende Elemente.
Die dritte Serie, „Suspended Time“, greift erneut den Gedanken einer stillstehenden, wartenden Zeit auf. Die Serie zeigt Relikte der Zeit vor dem GAU. Alltagsgegenstände wie Lebensmittel, die ihr Haltbarkeitsdatum längst überschritten haben, oder Gebrauchsgegenstände, die ihren Zweck nicht mehr erfüllen werden. An ihren Verfallserscheinungen ist der Lauf der Zeit am deutlichsten abzulesen und die Absenz der Zivilisation von flagranter Evidenz. Dass eine Steigerung dieser Evidenz jedoch möglich ist, zeigt die vierte Serie.
In „Erasure“ rückt die Absenz des Menschen noch deutlicher in den Vordergrund. Die darin versammelten Fotografien zeigen wie die Natur den einst von Menschen beherrschten Raum zurückerobert. Grün überwuchert die verlassenen, langsam verwahrlosenden Häuser. Einige Bauten sind inmitten der Pflanzen kaum noch auszumachen. Stehengelassene Fahrzeuge werden davon ebenso wenig verschont wie die Straßen selbst. Auch hier wird deutlich wie Stück für Stück zivilisatorische Entwicklung zunichte gemacht wird und sich die betroffenen Ortschaften selbst Jahre nach der Katastrophe noch mitten im Verfallsprozess befinden.
Auf eine andere Form des Verfalls richtet die fünfte Serie, „As Far As the Eyes Can See“, ihren Blick. Diese zeigt wie im Zuge der Dekontamination der betroffenen Ortschaften eine andere, ganz und gar sichtbare Form der Verschmutzung die betroffenen Gebiete soweit das Auge reicht überzieht und die nukleare Katastrophe nur umso präsenter macht. Meterhoch gestapelte schwarze Säcke, grüne Abdeckplanen und Berge von Schrott-Abfällen stehen hier im Fokus von teils aufklappbarer Bildseiten.
Den Abschluss bildet die sechste und titelgebenden Serie. „Retracing Our Steps“ nimmt die betroffenen Menschen in Augenschein. Auch hier vermischt sich Fiktion mit der Realität. In gestellten Szenen simulieren Evakuierte an Orten, die einst ihr Lebensraum waren, Normalität. Die Bilder zeigen alltägliche Dinge wie einen Einkauf im Supermarkt, den Besuch beim Friseur, oder den Arbeitsalltag im Büro. Supermarkt, Friseurladen und Büro tragen jedoch die deutlichen Spuren der Ereignisse. Auf diese Weise wird auf einen zentralen Konflikt verwiesen, der auf die Frage zusammenläuft, ob und wie ein Leben in der alten Heimat noch möglich ist. „Retracing Our Steps“ ist die einzige Serie der Ayesta und Bression unterstützend Text beigefügt haben. Jeder Fotografie sind einige Sätze zur Seite gestellt, die Aufschluss über die darin dargestellten Personen, den Ort und zuweilen über den genauen Zeitpunkt der Aufnahme geben. Ohne viel zu erzählen wird hier auf die persönliche Geschichte einzelner hingedeutet, die mitunter selbst zu Wort kommen dürfen. Vorgestellt werden sowohl Menschen, die eine Rückkehr für unmöglich halten, als auch solche, die selbst aus weiter Ferne heimkehren, um zu helfen. Der für die Betroffenen omnipräsente Konflikt über Verlust, Identität und Heimat wird auf diese Weise multiperspektiv und objektiv erörtert. Ohne jede Wertung von Seiten der Autoren stehen die Bemerkungen der Betroffenen als emotionale Eindrücke einzelner, realer Menschen zur eigenen Reflektion über die Wiederbewohnbarkeit der Ortschaften um Fukushima im Raum.
Das Buch schließt mit einem Nachwort von Kunstkritiker Christian Caujolle, der die Ereignisse um Fukushima sowie das Projekt Ayestas und Bressions noch einmal resümierend darlegt und deutet.
In ihrer Gesamtheit formen die Fotoarbeiten von Ayesta und Bression mit ihrer Multiperspektivität und ihrem zeitlichen Umfang, welcher schrittweise an die gesamte Tragweite der Katastrophe heranführt, ein vielsagendes Porträt, das nicht vieler Worte bedarf, um die Ausmaße der Folgen von Fukushima zu verdeutlichen und einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.
Cover & Abbildungen © Carlos Ayesta/Guillaume Bression & Kehrer Verlag
- Autoren: Carlos Ayesta, Guillaume Bression, Christian Caujolle
- Titel: Retracing Our Steps – Fukushima Exclusion Zone 2011-2016
- Verlag: Kehrer Verlag
- Erschienen: 01/2017
- Einband: Halbleineneinband
- Seiten: 152
- ISBN: 978-3-86828-738-7
- Sprache: Englisch, Französisch, Japanisch
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 13/15 dpt
- Auf Seitenzahlen verzichtet das Buch. [↩]