Estelle Surbranche – So kam die Nacht (Buch)


Estelle Surbranche - So kam die Nacht - Cover © Polar VerlagKoks, Krieg und das Böse

„So kam die Nacht“ beginnt mit Nathalie, der Auftragskillerin. Im Prolog verlässt sie ihre Mutter, die in den Straßen von Sarajewo während des Balkan-Kriegs Mitleid mit einer sterbenden, schwangeren Frau hat. Nathalie zieht es vor, zu überleben. Viele Jahre später killt sie spanische Schmuggler, die eine Kokslieferung ihres Bosses über Bord gehen ließen, als die Polizei anrückte. Diese Päckchen überschwemmen nun die Küste Nordspaniens und Südfrankreichs und schwimmen zwei Surfern vor die Boards – der Beginn einer Reise in einen mörderischen Abgrund. Matthieu und Romain lockt die Gier nach dem großen Geld und zunächst läuft alles gut. In Paris kümmert sich Alex darum, das lupenreine Koks unters Volk zu bringen und führt die beiden Jura-Studenten in die Szene ein. Das Leben dreht sich von nun an nur noch um Koks und Partys. Neid und unerfüllte Begierde bereiten den Boden für Gewaltexzesse – das Gebiet, auf dem die serbische Skorpionin Nathalie eine Meisterin ist. Die Wege der drei kreuzen sich. Und eine Polizistin, die nichts zu verlieren hat, folgt dieser Spur des Bluts.

Kein Entkommen aus der Spirale

Darüber, wer Täter und wer Opfer ist, herrscht stets Klarheit in dem Roman „So kam die Nacht“ von Estelle Surbranche. Es geht eher darum, wie die Protagonisten zum dem einen oder anderen werden und wer am Ende überlebt. Die Autorin aus Frankreich ist als DJ in der Pariser Clubszene bekannt, was ihr sicherlich eine gewisse Milieukenntnis eingebringt. Der Roman erzählt eine Geschichte darüber, wie junge Menschen mit einer rosigen Zukunft in den Sumpf des Drogenmilieus abrutschen. Wie Koks sie zu Monstern verwandelt, die sämtliche moralischen Grenzen überschreiten. Und spart dabei nicht an blutigen Einzelheiten. „So kam die Nacht“ erzählt aber auch von einem Duell zwischen zwei willensstarken und gefährlichen Frauen, die Getriebene und Überzeugungstäter zugleich sind.

Nathalie wurde von ihrem Onkel Radzig, einem ehemaligen Kriegsverbrecher und Drogenboss mit den Mitteln sexueller Gewalt zur Killerin ausgebildet. Seine Aufträge erfüllt sie effizient, auch wenn ihr der Gewaltrausch manchmal die Kontrolle entreißt. Gabrielle ist Polizistin in der Region Nouvelle-Aquitaine und muss um die Anerkennung als Capitaine kämpfen. Ihre Liaison mit dem falschen Mann führte einst zum Tod zweier Frauen. Diese Koks-Morde muss sie aufklären, koste es, was es wolle. Sie lässt sich weder von Vorschriften behindern noch von arroganten Kollegen die Butter vom Brot nehmen. Von diesem Fernduell, die beiden begegnen sich nie, lebt dieser Roman. Obwohl beide Frauen auf unterschiedlichen Seiten stehen, eint sie die Leidenschaft für das, was sie tun und eine unendliche Einsamkeit.

»Ich gebe jedem Verlangen nach, das in mir aufkommt. Wie zum Beispiel, dass ich jetzt dieses Mädchen vögeln will auf dieser abgewetzten Bank. Vor aller Augen. [..] denn ich bin schließlich der Allmächtige. Ich bin der Anfang. Ich bin das Ende.« [S. 85]

Die Wandlung der beiden Charaktere Matthieu und Romain ist nachvollziehbar, erscheint aber dennoch stereotyp. Während Matthieu versucht, aus dem Drogensumpf wieder herauszukommen und seine Freunde zu schützen, gibt sich Romain ganz der Gier und dem Rausch hin und wird zum Monster. Kurz wird erläutert, dass Romain einem reichen und lieblosen Elternhaus entstammt, während Matthieus Elternhaus in der Pariser Vorstadt intakt ist. Als Erklärungsansatz für den unterschiedlichen Werdegang der beiden Freunde wirkt das etwas dürftig. Zudem erscheinen einige Ereignisse am Rand dieser Geschichte fragwürdig. Es wird nicht klar, warum einerseits die Küstenstriche Nordspaniens und Südfrankreichs mit Radzigs Koks überschwemmt werden, die Situation aber lediglich im Umfeld dieser beiden Surfer so eskaliert.

Einen Ausblick auf das, was den Leser in den einzelnen Kapiteln erwartet, erlauben vorangestellte Zitate aus Rock- und Rap-Songs. Estelle Surbranche erzählt „So kam die Nacht“ in klarer, prägnanter Sprache aus der Sicht der Protagonisten Gabrielle, Nathalie, Romain und Matthieu. Bisweilen folgt der Leser den Gedanken Romains, was einen tieferen Blick in die Persönlichkeit ermöglicht, fast so verstörend wie in „American Psycho“ von Bret Easton Ellis. Zwischen den schroffen Zeilen schimmern jedoch immer wieder Emotionen wie Enttäuschung und Sehnsucht nach Anerkennung durch die eiskalte Storyumgebung hindurch. Die düstere Atmosphäre dieses Romans prägen also nicht allein die gewaltvollen Szenen, sondern gestalterische und sprachliche Mittel, mit der die Autorin das volle Spektrum an erzählerischen Grau- und Schwarztönen abdeckt.

»I’ve created a monster, ’cause nobody wants to
See Marshall no more they want Shady
I’am chopped liver«
[Eminem „Without me“ S. 122]

Insgesamt ist „So kam die Nacht“. ein ultraspannender, böser Thriller, der zeigt, wie geschlechtsunabhängig der sonst eher männlich dominierte „Noir“ funktioniert. Estelle Surbranche versteht es die Gewaltorgien in einem schlüssigen Kontext zu inszenieren, sodass sie nie zum Selbstzweck verkommen. Dennoch gelingt es, die LeserInnen zu überraschen, obwohl sie immer mit dem Schlimmsten rechnen. Eine Qualität des Noir ist, das am Ende niemand auf der Seite der Gewinner steht, so ist es auch in diesem Thriller. Es gibt lediglich Überlebende und einen Fingerzeig darauf, dass der Krieg noch nicht beendet ist.

Möglicherweise schreibt Estelle Surbranche eine Fortsetzung und es wäre schön, wenn diese ihren Weg auf den deutschen Buchmarkt finden würde. Leider hat der Polar-Verlag, der dieses mutige Werk in exzellenter deutscher Übersetzung veröffentlicht hat, Insolvenz angemeldet. Gesucht wird ein Käufer, der das qualitativ hochwertige Programm im Sinne seines Gründers Wolfgang Franßen weiterführt.

Nachtrag: Die neuesten Entwicklungen rund um den Polar-Verlag stimmen positiv. Ein Finanzier wurde gefunden und Wolfgang Franßen arbeitet als Programmleiter bereits an einem Frühjahrsprogramm 2018.

Cover © Polar Verlag

Wertung: 12/15 Kokslinien


4 Kommentare
  1. Teile die Einschätzung. Ein, zwei Morde/Todesfälle zu viel, die die eigentlich stringente Handlung der Geschichte etwas unterwandern, dafür hätte die Autorin die Charaktere der beiden Protagonisten etwas tiefer ausfeilen können. Alles in allem ein rasanter, toll geschriebener Krimi, zeitweise ein echter Pageturner.

    1. DANKE für Deinen Kommentar. Ja genau. Die männlichen Protagonisten eher blass, etwas arg viel in Blut badend,dafür die Damen umso besser charakterisiert. Ich denke, die Autorin kann man sich auf jeden Fall merken, vielleicht finden wir sie mal wieder im Polar-Programm. Das Frühjahrsprogramm ist übrigens jetzt verfügbar, vielleicht interessiert es Dich. https://www.yumpu.com/de/embed/view/2MApCxRPYrUSqHzK Liebe Grüße und Guten Rutsch, Eva

  2. Vielen Dank für diese tolle Rezension! Ich habe auch bereits über Bücher aus dem Polar-Verlag geschrieben (“Brant” und “Libreville “), die mir beide gerade deshalb so gefallen haben, weil sie nicht dem üblichen Muster entsprochen haben. “So kam die Nacht ” scheint ebenfalls außergewöhnlich zu sein. Ich hoffe, dass der Verlag den Weg aus der Krise schafft.
    Viele Grüße, Ina

    1. Ist schon passiert, die Rettung des Polar-Verlags. Siehe den Zusatz, den ich gerade am Ende der Rezension ergänzt habe. Es kann also weitergehen mit den hochwertigen, ultraspannenden Noir-Krimis, die sich so schön abseits des Üblichen präsentieren. Und ja, “So kam die Nacht” ist wirklich speziell, hart, ungewöhnlich, aber dennoch mit unmittelbarem Realitätsbezug. LG, Eva

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