Gela Tschkwanawa – Unerledigte Geschichten (Buch)


Gela Tschkwanawa - Unerledigte Geschichten (Cover © Voland & Quist)Ende August dieses Jahres besuchte die Bundeskanzlerin die Kaukasus-Region. Was blieb in den Nachrichten davon hängen? Ein verwehrtes Visum für die Einreise eines Merkel-Vertrauten nach Aserbaidschan und (leider auch bei der Außenpolitik Thema Nummer eins) die Anerkennung Georgiens als sicheres Herkunftsland. Die Region spielt in den geopolitischen Zielen der Weltmächte eine zunehmende Rolle, doch für die tiefschürfende Berichterstattung über die Herausforderungen und interessanten Zusammenhänge liegen die Postsowjet-Staaten immer noch zu sehr an der Peripherie. Daran kann leider auch Gela Tschkwanawa nichts ändern, denn „Unerledigte Geschichten“ wird seinem Titel auf unangenehme Weise gerecht. Das Buch wirkt zerfahren und kann seine aufklärerische Idee nicht anregend umsetzen.

Die Lage in Georgien ist verzwickt. In direkter Grenznachbarschaft zu Russland kommt dem Südkaukasus-Staat eine besondere Rolle in der Region zu, denn in seinen wirtschaftlichen und politischen Bemühungen gen Süden, beispielsweise eine ausgeweitete Einflussnahme auf Armenien, kommt Putins Russland geographisch nur schwerlich an Georgien vorbei. Dieses orientiert sich aber wiederum zunehmend Richtung Westen, also den USA und der EU. In Georgien selbst herrscht momentan Frieden, doch der Kurz-Krieg mit Russland 2008 zeigt, auf welch provisorischem Fundament dieser gebaut ist. Damals ging es um die Region Südossetien, ein De-facto-Staat, der sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entwickelt hat und mittlerweile unabhängig agiert, völkerrechtlich aber noch zu Georgien gehört.

Gleiches gilt in der Region für Bergkarabach zwischen Armenien und Aserbaidschan sowie für den zweiten von Georgien abgespaltenen Landesteil Abchasien. Die „autonome Republik“ liegt im Nordwesten Georgiens und nah an der russischen Olympia-Stadt Sotchi. Abchasien wird in seinen Unabhängigkeitsbestrebungen von Russland anerkannt und unterstützt, da es seinen Einfluss auf die ehemaligen Sowjetstaaten aufrechterhalten will. Zwischen 1992 und 1994 kam es zu einem Krieg zwischen Abchasien und Georgien, der heute auf Eis liegt, wie jeder Konflikt in der Region, aber von heute auf morgen wieder aufflammen kann. Vor diesem Hintergrund spielt „Unerledigte Geschichten“, doch leider wird dieser kaum erklärt.

Der mittlerweile 51-jährige Autor Gela Tschkwanawa ist selbst in Sochumi, der Hauptstadt Abchasiens, geboren, diente als sowjetischer Soldat und wurde noch während seines Studiums der Philologie im Zuge des Abchasienkrieges als Georgier vertrieben. In seinem bereits 2008 erschienenen Buch „Unerledigte Geschichten“, das nun von Susanne Kihm und Nikoloz Lomtadze ins Deutsche übersetzt wurde, berichtet der Autor durch seine Hauptfigur Gepetto über die Zeit rund um den Krieg und versucht sich dabei dem Alltäglichen der kaum zu fassenden Situation zu nähern. Tschkwanawa kann dabei Authentizität attestiert werden, einem mit den politischen Zusammenhängen nicht vertrauten Leser gibt er dabei aber nur wenig Hilfestellung.

Gepetto ist ein bemitleidenswerter Mann, der sich so durchschlägt. Der Krieg hat ihn psychisch und die Arbeit physisch gezeichnet, doch vor allem sind ihm stabile Beziehungen fremd geworden. Seine Familie ist mehrfach auseinandergebrochen, seine Freunde vor seinen Augen im Krieg gefallen und seine Lieben verflossen. Um Gepetto spinnt sich ein verwickeltes Netz an Ereignissen und menschlichen Verbindungen, das kaum zu überblicken ist. Tschkwanawa glaubt, dass sich die Verhältnisse im Laufe der Geschichte selbst erklären, doch er verliert dabei seine Leser*innen wie auch seinen Plot aus dem Blick. Immer wieder fällt Gepetto in Erinnerungen zurück, diese sind aber zu anekdotenhaft, als dass sich ein nachvollziehbarer Bewusstseinsstrom entfalten könnte.

Dieser ist angesichts der traumatischen Erlebnisse vollkommen angebracht, um die pathologische Ununterscheidbarkeit zwischen Gegenwart und Vergangenheit unter Wegfall einer Zukunft greifbar zu machen, wenn er denn stilistisch auszumachen wäre. Ohne den Klappentext gäbe es kaum einen Anhaltspunkt für einen roten Faden (Gepetto sucht nach seinem Stiefvater, der wiederum das Grab seiner Frau besuchen möchte), aber selbst die unerledigten Geschichten sind in sich so bruchstückhaft, dass ihnen kaum zu folgen ist. Vielleicht hätten statt der neun Kapitel neun Kurzgeschichten besser funktioniert, um den verschiedenen Schicksalen gerecht zu werden. Eine Einbettung in den Gesamtkontext ist nämlich nur schwerlich anhand der Charaktere möglich, die in ihrer schieren Zahl wiederum weitere Verwirrung stiften.

Tschkwanawa nimmt sich der kleinen Leute an und zeichnet sie mit Mut zur schroffen Authentizität. Drogen und Alkohol sind an der Tagesordnung, Gepetto schwärmt regelmäßig von großen Titten, über den Tod eines Kumpels im Krieg wird nicht lange nachgedacht, alles vor der ländlichen, vom Krieg gezeichneten Folie durchaus legitim. Ebenso kann die Unabgeschlossenheit ein angebrachtes Stilmittel sein, um die wahren Ausmaße des Krieges zu zeigen, die ein ganzes Volk soweit traumatisieren und auseinanderbringen kann, dass sie keine Erzählungen über sich zu Ende bringen können. Es wird jedoch nicht Tschkwanawas Intention gewesen sein, dass seine Geschichten sich kaum festsetzen.

Unter Umständen geht durch die Übersetzung Wichtiges verloren, weil es schlicht nicht zu übersetzen ist, aber davon abgesehen fehlt „Unerledigte Geschichten“ der klare stilistische Plan. Immer wieder fällt Gepetto in seine Anekdoten zurück, was es schwierig werden lässt, nachzuvollziehen, in welchem Erzählstrang er sich gerade befindet und zu welcher Zeit dieser spielt. Wahrscheinlich webt Tschkwanawa einige Informationen in seine Erzählung ein, die sich nur für den gemeinen Kaukasier erschließen. In diesem Fall hätte es zusätzlich zum vorhandenen Glossar weitere Informationen gebraucht, damit die Zusammenhänge verfolgbar bleiben.

Doch die Vermutung liegt nahe, dass auch das „Unerledigte Geschichten“ nicht zu einem überzeugenden Leseerlebnis hätte werden lassen. Dem Roman fehlt es an Klarheit an den passenden Stellen, um über die Besonderheit des Abchasienkonflikts und die von ihm Betroffenen zu vermitteln. Größtenteils könnte Gepetto auch Opfer eines ganz anderen Krieges geworden sein, wofür sich mit dem Universalitätsverdacht von Krieg und seiner Ortlosigkeit argumentieren lässt. Zu selten aber kommt Tschkwanawa auf die Identität seiner Figuren zurück. Häufig steigt der Autor nicht tief genug ein, dann sind Russen Russen und Georgier Georgier, dabei gehört es zu den beeindruckendsten Momenten, wenn Anaida, Gepettos verflossene Liebe, sich laut Herkunftsdefinition zwischen Armenierin, Griechin und Georgierin definieren könnte, angesichts der gegenwärtigen Realität jedoch zu dem Schluss kommt: Ich bin niemand!

Natürlich begibt sich Gela Tschkwanawa in ein nobles und schwieriges Unterfangen, weil er den Vergessenen und Übersehenen in einer höchstkomplexen Lage eine Stimme geben möchte. Am ehesten eignet sich der Roman noch als Artefakt, um die verlernte Artikulation und die fehlenden Erzählungen der Opfer zu erklären. Doch Tschkwanawa wiederum fehlt es in diesem Fall an Raffinesse, um dies mit literarischen Mitteln in ein packendes Werk umzusetzen. Aus den unerledigten werden schnell vergessene Geschichten, die es nicht schaffen, beim nächsten Blick auf die Weltkarte an Abchasien hängen zu bleiben. Vielleicht ist der Entzug der Identität die wahre Brutalität, die der Krieg einem Volk antut, aber trotzdem: Der Roman hätte spannender sein können.

Fazit: Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass „Unerledigte Geschichten“ ein unvollendetes Buch ist. Gela Tschkwanawa nimmt sich in seinem Roman, der zehn Jahre später nun auch auf Deutsch erscheint, seiner Heimat Abchasien und des Krieges an, der dort von 1992 bis 1994 wütete. Leider aber verrennt sich der Autor in den anekdotenhaften Erinnerungen seiner Hauptfigur und weiß die unerledigten Geschichten nicht stilistisch packend umzusetzen. Dabei kann die Region Aufmerksamkeit dringend gebrauchen, um nicht an der Peripherie vergessen zu werden.  „Unerledigte Geschichten“ ist ein düsteres Buch, von dem bis auf ein paar Momente des Schicksals leider kaum etwas haften bleibt. Vielleicht ist es die Sichtbarmachung der verunmöglichten Artikulation der Abchasen über ihr Leben, die das Buch letztendlich auszeichnet, doch das macht es eher zu einem interessanten Artefakt als zu einem spannenden Roman.

  • Autor: Gela Tschkwanawa
  • Titel: Unerledigte Geschichten
  • ÜbersetzerInnen:
    Susanne Kihm
    Nikolos Lomtadse
  • Verlag: Voland & Quist
  • Erschienen: 09/2018
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 240
  • ISBN: 978-3-863912-11-6
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite

Wertung: 7/15 dpt


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