Eske Hicken – Homeless (Buch)


Katie achtet auf Sams Atem. Wenn er ruhig atmet, schläft er. Ihr Rucksack ist im Gebüsch im Garten versteckt. Wenn es ihr gelingt, die Schlafzimmertür zu öffnen, ohne dass Sam aufwacht, hat sie es geschafft.

John achtet auf seine Umgebung. Raub, Schläge, Regen und Ratten gehören zu seiner alltäglichen Bedrohung. Wenn es ihm  gelingt, zu seinem Zelt zu kommen, ohne dass seine Kleidung komplett durchnässt wird, hat er es geschafft. Vorerst.

Helen achtet auf Richard. Er wird ihr immer fremder. Gleichzeitig achtet sie auf ihre Stimmung. Wenn es ihr gelingt, durch den Tag zu kommen, ohne im Bett liegen zu bleiben, ist das ein gutes Zeichen.

Richard achtet auf seine Karriere. Mit dem neuen Chefredakteur stehen Veränderungen an, die hoffentlich nur seine Frau betreffen und nicht ihn. Wenn er es erstmal bis zum stellvertretenden Chefredakteur schafft, ist er in Sicherheit.

Während Katie vor ihrem gewalttätigen Partner flüchtet, um sich in Portland eine neue Existenz aufzubauen, lebt John bereits seit Jahren auf der Straße. Er kennt das Leben als Wohnungsloser wie kein anderer. Er hat geholfen, Camps aufzubauen, und er postet täglich auf seinem Facebook-Account über die Probleme, die nur Menschen kennen, die als Abfall der Gesellschaft betrachtet werden. Beide lernen sich kennen, nachdem Katie erfahren muss, wie schwierig es ist, sich in einer Stadt zurechtzufinden, die nur Komfort für Großverdiener bietet.

Dem gegenüber steht das wohlsituierte Ehepaar Helen und Richard. Beide arbeiten bei der Zeitung. Er gilt als der provokante Querkopf, dessen Meinung schon mal zu weit nach rechts abdriftet, sie als die einfühlsame Expertin für Reportagen. Sie besitzen ein Haus, das zu groß für sie ist. Sie leben in einer Straße, die weitestgehend verschont geblieben ist von den Problemen der Stadt. Doch alles verändert sich, als jemand nachts umgeht und die Zelte der Obdachlosen anzündet.

Vier Charaktere, die allesamt so unterschiedlich sind und doch durch eines verbunden werden – Portland.

Portland ist eine der hippsten Städte der USA. Hier lebt, wer sich als alternativ, weltoffen und tolerant versteht. Hier kommen all diejenigen her, die ein bewusstes Leben bevorzugen. Die sich lieber vegan und vom Biomarkt ernähren als von Mc Donald´s. Die Black-Lives-Matter-Schilder in ihrem Garten anbringen. Die entschieden gegen Trump stehen.

„Andererseits muss er sich aber doch nicht schämen, dass er einen versiegelten Parkettboden besitzt und 200 Dollar für Gin ausgibt. Er kann trotzdem was rauchen und sich unbekannte Bands anhören, da wo die Toiletten eklig sind.“

Der klassische Hipster. Er zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass seine Ignoranz unübertroffen ist, während er sich als moralisch überlegen charakterisiert.

Denn: Alles, wofür die Hipster in Portland stehen, machen sie mit ihrem Erscheinen kaputt. Während sie sich in ihrer Existenz als Weltvorbild feiern, vertreiben sie die Schwarze Bevölkerung, die sich die Mieten in der sich wandelnden Stadt nicht mehr leisten kann. Tausende von Obdachlosen sind die Konsequenz eines Trends, der sich an einem zentralen Punkt – Portland – zusammengefunden hat.

Dieser Widerspruch stellt die Autorin vor allem an der Journalistin Helen heraus. Sie ist diejenige, die sich für die Rechte der Obdachlosen einsetzt, solange diese sich in sicherer Entfernung befinden. Als die ersten Obdachlosen in ihrer Straße auftauchen, fühlt sie sich unbehaglich, am Fenster ausharrend, während sie überlegt, wie sie damit umgehen soll, dass sie nun ein schlechtes Gewissen haben muss, wenn sie im Trockenen und Sicheren steht und der Unbekannte draußen auf der Straße.

Vor dem Hintergrund des sich wandelnden Stadtbilds Portlands, welches mehr und mehr von den Wohnungslosen mit Zelten besiedelt wird, entsteht die rechte Bewegung Pro Portland, die zur Regierungszeit Trumps ihre Existenzberechtigung zelebriert. Deren Führer Raddisson hält nicht nur Hetzreden gegen Obdachlose, sondern fordert die Einpferchung von Menschen in Reservate und die Streichung sämtlicher Hilfsleistungen.

Gleichzeitig zündet ein Unbekannter die Zelte von Obdachlosen an, manchmal auch mit einem Schlafenden darin. Doch selbst die ersten Mordfälle sorgen nicht für eine Schlichtung beider Fronten von Links und Rechts. Vielmehr verschärfen sich die Grenzen, sodass die Bevölkerung stärker gezwungen ist, Stellung zu beziehen.

Es ist nicht der erste Roman, der sich mit der Wahl Trumps zum Präsidenten und deren Konsequenzen kritisch auseinandersetzt. Es scheinen vor allem Autorinnen zu sein, die dieses Wahlergebnis in ihren Büchern verarbeiten, wie bspw. in „Die Heldin der Geschichte“ oder „Unberechenbar“. Gemein ist diesen Geschichten, dass sie eine Angst vermitteln, da mit Trump eine frauen- und fremdenfeindliche Haltung wieder akzeptiert zu sein scheint.

Fazit:

„Homeless“ ist ein Roman, der so intensiv ist, dass es manchmal weh tut. Keine andere Autorin hat es bislang geschafft, das Leben auf der Straße so eindrücklich zu beschreiben wie Eske Hicken es in ihrem Roman tut. So zeigt sie nicht nur anhand der Protagonistin Katie auf, welche Umstände dazu führen können, heimatlos zu werden. Auch verbildlicht sie Lebensbedingungen, über die sich Menschen mit festem Wohnsitz kaum Gedanken machen müssen. Wie können sich Frauen vor Übergriffen schützen? Wohin gehen, wenn ein Magen-Darm-Virus grassiert?  Was tun, wenn die Kleidung durchnässt ist? Wird die Polizei erscheinen, wenn ein Obdachloser angezündet wird?

Eske Hicken beweist nach ihren einjährigen Recherchen in Portland, wie absurd die Entwicklung einer Gesellschaft verläuft, die ihre Augen vor Problemen verschließt. Gleichzeitig ist „Homeless“ eine Dokumentation einer Zwei-Klassen-Gesellschaft, deren Zugehörige so weit voneinander entfernt sind, dass sie keinerlei Berührungspunkte teilen.

Eines der bislang eindringlichsten Bücher diesen Herbstes!

  • Autor: Eske Hicken
  • Titel: Homeless
  • Verlag: Edition W
  • Umfang: 331 Seiten
  • Einband: Gebundene Ausgabe
  • Erschienen: 04.09.2023
  • ISBN: 978-3-949671-09-8
  • Produktseite

Wertung: 15/15 dpt


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