Axel Ranisch – Nackt über Berlin (Buch)


Axel Ranisch - Nackt über Berlin (Cover © Ullstein)Story:
Es beginnt scheinbar mit einem Zufall – Jannik und sein heimlicher Schwarm Tai beobachten ihren Schuldirektor Jens Lamprecht vollkommen besoffen in der Stadt. Tai, der immer mit einer Kamera bewaffnet ist, nimmt die peinlichsten Stunden im Leben des Mannes auf, anschließend bringen sie Lamprecht in sein Luxusappartment. Für Jannik ist die Sache damit erledigt, doch Tai hat andere Pläne – er zerstört jegliche Kommunikationsmittel und sperrt den Betrunkenen der Wohnung ein. Aus dem anfänglichen Spaß wird schon bald bitterer Ernst, denn Tai hat sich darauf eingeschossen, Jens Lamprecht ein Geständnis zu entlocken hinsichtlich den Hintergründen des Selbstmordes einer Mitschülerin vor sechs Monaten. Dafür ist ihm jedes Mittel recht – das Abstellen von Strom und Wasser ist nur der Anfang. Jannik weiß nicht, wie er mit der Situation umgehen soll, zieht aber mit, weil er in Tai in verliebt ist und selbst die Wahrheit kennen will …

Eigene Meinung:
Die skurrile, ungewöhnliche Coming-of-Age Geschichte „Nackt über Berlin“ stammt von Axel Ranisch und erschien 2018 im Ullstein Verlag. Der Autor ist vielen bereits als Regisseur bekannt – so war er für den schwulen Improvisationfilm und Überraschungserfolg „Dicke Mädchen“ verantwortlich, ebenso drehte er zwei „Tatort“-Filme und war auch als Schauspieler tätig. Die Geschichte um Jannik, Tai und Direktor Lamprecht ist Ranischs erster Schritt als Autor.

Die Geschichte beginnt einfach und skurril – die Entführung des Direktors mit dem klaren Ziel ihn zu einem Seelenstriptease zu zwingen – und endet in vielen Punkten unerwartet, denn in den wenigen Wochen, in denen die Geschichte spielt, machen alle Figuren eine ordentliche Weiterentwicklung durch. Axel Ranisch lässt seine Figuren die Höhen und Tiefen des Lebens erfahren, allen voran Hauptfigur Jannik, der aufgrund seiner Leibesfülle und seiner Vorliebe für klassische Musik ein Außenseiter ist und der seine Homosexualität und damit sich selbst vor jedem versteckt. Er ist ein schwacher, unsicherer Jugendlicher, der schnell zum Mitläufer wird und dementsprechend oft ausgenutzt wird. Es dauert bis er die Kraft und den Mut findet, für sich selbst einzustehen und das zu tun, was richtig ist. Tai im Gegenzug ist das Genie hinter der gesamten Operation Lamprecht – er weiß, wie man sich ins Gebäude hackt, jegliche Kommunikation nach draußen unterbindet und was er tun muss, um dem Direktor die Hölle auf Erden zu bereiten. Auch er hat sein Päckchen zu tragen, ist jedoch aufgrund seiner Intelligenz und seiner Rachegedanken die Triebfeder der Geschichte. Als letzter Hauptakteur tritt Jens Lamprecht auf den Plan, der sich als guten Menschen sieht, wenngleich er sich soeben erst auf sehr schmutzige Art von seiner Frau getrennt hat und die Ehre der Schule mit einer Lüge gerettet hat . Für ihn ist die Gefangenschaft in seiner Wohnung kein Zuckerschlecken und seine Versuche denjenigen zu entlarven der hinter der Entführung steckt, ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

Es dauert, bis Jannik (und damit auch der Leser) hinter Tais Beweggründe kommt und die wahren Hintergründe erfährt. Erst nach und nach deckt Axel Ranisch die Geheimnisse rund um Melanie Heises Selbstmord auf, denn die Wahrheit und der Umgang mit ihrem Tod sind der eigentliche Auslöser für alles. Axel Ranisch erzählt sehr ausführlich, was Jens Lamprecht alles wiederfährt und wie er mit der Situation umgeht. Zeitgleich legt er auch sein Hauptaugenmerk auf Jannik, der im Laufe des Buches stärker wird und endlich lernt zu sich selbst zu stehen. Das bedeutet nicht nur sich zu outen, sondern auch mit seinem Vater Frieden zu schließen, vor dem er die meiste Zeit Angst hat und mit dem er nur selten redet.

Die Charaktere sind sehr realistisch und agieren nachvollziehbar. Man versteht sowohl Jannik und seine Ängste, als auch Tai, der als sich Asiate in Deutschland immer noch nicht willkommen fühle. Man versteht Lamprecht, der teils zur Lüge gezwungen war und der nach seiner Gefangenschaft beschließt, mit all die Fehler, die er gemacht hat, wieder gutzumachen und mit seinem Leben aufzuräumen. Seine Wandlung wirkt fast ein wenig zu krass, wenngleich er dank Tai wirklich durch die Hölle gegangen ist.

Axel Ranischs Schreibstil ist amüsant, spritzig und teils sprachlich sehr deutlich. Er zeichnet sehr realistische Figuren mit Ecken und Kanten. Sein Buch lebt von guten Beschreibungen und sehr spritzigen Dialogen. Einzig die Längen am Anfang nehmen ein wenig den Schwung aus der Geschichte, insbesondere wenn Jannik über Musik und Komponisten schwadroniert – wenngleich das zu seiner Art passt. Die Kapitel aus seiner Sicht werden aus der Ich-Perspektive geschrieben, weswegen man Jannik sehr gut kennenlernt. Neben Jannik gibt der Autor auch Jens Lamprecht eine Stimme – seine Gedanken und Gefühle werden dem Leser in der dritten Person näher gebracht.

Fazit:
„Nackt über Berlin“ ist ein witziger, skurriler Coming-of-Age, der zum Ende hin mit überraschend viel Tiefgang und Herz punktet. Man ist schnell in der Geschichte, begleitet die Figuren durch die ungewöhnliche Geschichte und erkundet mit ihnen die Hintergründe zum Selbstmord Melanies. Man schließt die Figuren ins Herz, allen voran Jannik, der einen ähnlichen Entwicklungssprung hinlegt wie Jens Lamprecht. Axel Ranisch legt einen ungewöhnlichen Roman vor, der sich angenehm aus der breiten Masse abhebt und im Gedächtnis bleibt. Auf jeden Fall reinschauen.

Cover © Ullstein

  • Autor: Axel Ranisch
  • Titel: Nackt über Berlin
  • Verlag: Ullstein
  • Erschienen: 02/2018
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 384
  • ISBN: 978-3-961010134
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite

Wertung: 11/15 dpt

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