Sandra Brökel – Das hungrige Krokodil (Buch)


Sandra Brökel – Das hungrige Krokodil (Buch)

Sandra Brökel - Das hungrige Krokodil (Buch) Pendragon Verlag, schwarz-weiss Foto, Paar am Flussufer auf einer Brücke, Rückseite der Personen zu sehen, heller Hintergrund, Titelbeschriftung orange
© Pendragon Verlag
Die tschechische Heimat verwandelt sich in den Amazonas

Aufgewachsen ist Pavel Vodák in Budweis. Das vom gleichnamigen Bier bekannte Dorf liegt in Südböhmen in der Tschechoslowakei, nahe Österreich und Deutschland. 1939 unterzeichnete die Slowakische Republik einen Schutzvertrag mit dem Deutschen Reich. Es entstanden die Protektorate Böhmen und Mähren. Hitlers Soldaten drangen in die Städte und Dörfer ein und spalteten die Bevölkerung. Pavel, Sohn eines tschechischen Offiziers und seiner deutschen Ehefrau, bemerkt, wie seine deutschen Freunde plötzliche eine vermeintliche Überlegenheit demonstrieren. Und sich von ihm abwenden.

Pavel zieht es zum Medizinstudium nach Prag. Er ist ein ehrgeiziger Student und lernt an der Universität seine Traumfrau Věra kennen. Von einem jüdischen Kommilitonen erhält er ein Knochenmodell der Handwurzel geschenkt, da dieser nicht länger studieren darf. Im Zuge von Studierendenunruhen in Prag wird die Karls-Universität für alle Studierenden geschlossen. Und das für drei lange Jahre. Das Krokodil, das eine Weile ruhig und unscheinbar im Wasser lag, öffnet sein Maul und beißt zu.

Nachdem der 2. Weltkrieg vorüber ist, wird Pavel mit den Konsequenzen des ultimativ Bösen konfrontiert. Gemeinsam mit Věra versorgt er die Befreiten des KZs Theresienstadt. Sein Glaube an die bessere Zukunft unter dem Schutz der Sowjets erhält einen Dämpfer, als seiner Ehefrau der Abschluss ihres Studiums verwehrt wird. Das Krokodil lauert.

Als Psychiater, Neurologe und Kinderarzt leitet er das Institut für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Prag als ärztlicher Direktor. Seine Tochter Pavla hüpft durchs Leben und entwickelt sich zu einem klugen Kind. Politisch zeichnet sich Tauwetter ab, denn der Prager Frühling verheißt einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Pavel unterstützt die Forderungen der Intellektuellen um Václav Havel. Endlich Freiheit? Doch mit den russischen Panzern kommt auch das Krokodil zurück und taucht an die Wasseroberfläche. Pavel muss sein Land, seine Stadt, seine Heimat verlassen. Denn wenn es das nächste Mal zuschnappt, wird es ihn festhalten und zerreißen.

Zeitreise und Bekenntnis 

Die Krokodil-Metapher stammt vom Protagonisten Pavel Vodák, denn „Das hungrige Krokodil“ ist ein biographischer Roman. Die Schreib- und Trauertherapeutin Sandra Brökel recherchierte einst zum Thema Adoptivkinder. Dabei stieß sie auf Fachpublikationen des Prager Kinder- und Jugendpsychiaters Pavel Vodák, allerdings in tschechischer Sprache. Sie konnte diese nicht verwenden. Viele Jahre später verbrachte sie einen schönen Abend mit ihrer Freundin, die sich selbst Paula nennt, obwohl in ihrem Pass der Name Pavla steht. Es stellte sich heraus, dass Paula tatsächlich die Tochter jenes Pavel Vodák ist. Sie erzählte ihrer Freundin Sandra von einer Arzttasche, die mit den Lebenserinnerungen ihres Vaters gefüllt ist, die er in seinen letzten Lebensjahren aufgeschrieben hat.

„Vielleicht kannst Du das, was er begonnen hat, zu Ende bringen.“S. 245, Nachwort

Und so kam es, dass Sandra Brökel mit Hilfe der Aufzeichnungen des Arztes Pavel Vodák den Roman „Das hungrige Krokodil“ schrieb. Als prägendes Element zieht sich das Bild des still und unauffällig unter der Wasseroberfläche lauernden Krokodils durch die Geschichte, das urplötzlich sein Maul aufreißt und Beute schnappt. Es steht für Hitlers Armee, die als angebliche Schutzmacht 1938 in die Tschechoslowakei einmarschierte und Land und Volk eroberte. Und es steht für die Sowjet-Herrschaft, die 1968 den Prager Frühling unter Panzerketten niederrollte.

„Wie unser Führer [Hitler] schon sagte: Die Grenzen der Staaten werden von Menschen gemacht, und die Menschen verändern sich und dadurch auch die Grenzen. Unser Führer sagt nur in der Macht und in nichts anderem liegt das Recht.“S. 32

An was erinnert uns dieses Zitat Hitlers, heute, im März 2022? Genau, an Putins Vorwand einen Angriffskrieg auf die Ukraine auszuüben. 33 Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs, 77 Jahre nach Beendigung des 2. Weltkriegs. Der historische und biographische Roman „Das hungrige Krokodil“ beschreibt Ereignisse und Erinnerungen, die uns aktuell wieder einholen.

Der Roman beginnt 1970 in Prag. Pavel Vodák trifft die letzten Vorbereitungen für seine Flucht. Wir folgen seinen Gedanken in den letzten Momenten in seinem Institut. Nach diesem einleitenden Kapitel folgt die Zeitreise zurück nach 1939, zu Pavels Jugend in Budweis unter deutscher Besatzung. Von da an bewegt sich die Erzählung kapitelweise in der Zeitlinie vorwärts und springt in prägende Abschnitte in Pavels Leben. Ein wenig gewöhnungsbedürftig ist dieser Erzählstil, weil er zunächst fragmentarisch wirkt. An einigen Stellen von Pavels Leben hätte man gern länger verweilt. Sandra Brökel konzentrierte sich hauptsächlich auf die relevanten Lebensphasen. Auf den Übergang von der faschistischen zur kommunistischen Diktatur, auf den Prager Frühling und die Zeit danach. Die Zeit, in der die Hoffnung zerschlagen wurde und sich die Schlinge um Pavels Hals enger zog.  

In diesen Passagen des Romans, in denen sich Pavel voller Hoffnung den Aktivisten um Václav Havel anschließt und schließlich mit ansehen muss, wie diese Hoffnung einen gewaltsamen Tod stirbt, gehören zu den emotionalsten des Romans. Sie erlauben einen tiefen Blick in Pavels Gefühle und Gedanken. Verzweiflung, aber auch eine wachsende Entschlossenheit herrschen darin vor, nachdem die Diktatur Pavel Konferenzbesuche im westlichen Ausland verbietet. Je mehr seine Heimat ihn einschließt, desto weniger fühlt sich Pavel mit ihr verbunden, sondern abgestoßen. Sehr aufschlussreich sind die Gespräche zwischen Pavel und seiner Ehefrau Věra. Noch intensiver, die mit seinem Freund Fiala und einem Kollegen und Professor aus Wien.

»Zwischen ihnen hat sich eine Magie aufgebaut, die an ein Magnetfeld erinnert. Zwei gegensätzliche Pole, die einander anziehen. Nur die Vernunft hält einen gebührenden Abstand zwischen ihnen aufrecht. „Sie brauchen also drei Reisepässe?“ fragt der Professor unvermittelt.S. 152

Wäre dies kein biographischer Roman, würde ich insgesamt kritisieren, dass Věras Persönlichkeit eher blass bleibt. Doch in den Kapiteln über die Fluchtvorbereitung und Flucht wird ihre Verletzlichkeit spürbar. Im Kontrast dazu: Fiala, der sein Leben genießt so gut er kann und die Politik weitestgehend ausblendet.

Ein markanter Schreibstil: schlicht und raffiniert zugleich

Sandra Brökel schreibt einen sehr individuellen Stil mit hohem Wiedererkennungswert. Ich habe selten ein Buch gelesen, dass einen sehr einfachen und schlichten Satzbau mit derart aussagekräftigen Bildern und spontanen Wendungen verbindet (siehe Textbeispiel von Seite 152).

Die Autorin verdient ihr Brot als Trauertherapeutin. Vielleicht gehört es zu diesem Beruf, schwierige Sachverhalte einfach verständlich zu formulieren und zugleich in schöne Worte und Metaphern zu kleiden. Jedenfalls beherrscht die Autorin diese Stilkombination perfekt. Sie bietet dadurch ihre gehaltvolle Lektüre in barrierefreier Sprache an, die allen erwachsenen Altersklassen und Bildungshintergründen zugänglich sein dürfte. Dazu streut sie kluge und passende Zitate anderer Literaten ein, wie zum Beispiel das von Václav Havel über die Hoffnung. Oder dieses anschauliche Zitat einer amerikanischen Dichterin:

„Hoffnung ist das Ding mit Federn, das sich in der Seele einnistet und eine Melodie ohne Worte singt.“ Diese Poesie der Dichterin Emily Dickinson dringt ungefragt in sein Gehirn [..].
Die Freiheit hat ihren Preis

Und diesen Preis zahlt Pavels Ehefrau Věra. Die politische Unfreiheit, die sie nie so gespürt hat, wie ihr Ehemann, tauscht sie gegen gesellschaftliche Unfreiheit. Die Flucht der Familie Vodák endet in Deutschland, im ostwestfälischen Warburg. Pavel wird Chefarzt einer Einrichtung für geistig behinderte Menschen, Věra dagegen Hausfrau. Die spießige westliche Gesellschaft der 70er Jahre erlaubt ihr nicht, einem Beruf nachzugehen. Das Ende ist geprägt von einem mäandern zwischen Hoffnung und Heimatlosigkeit. Auch das Nachwort kommt eher melancholisch daher. Es streift die Entstehungsgeschichte dieses Romans, die vielleicht genau so spannend ist, wie die Geschichte über Pavel Vodaks ereignisreiches Leben. Komplett erzählt wird sie in Sandra Brökels zweitem Buch „Pavel und ich“.

  • Autor: Sandra Brökel
  • Titel: Das hungrige Krokodil
  • Verlag: Pendragon Verlag
  • Erschienen: 02/2018
  • Einband: E-Book
  • Seiten: 250
  • ISBN: 978-3-86532-608-9
  • Sonstige Informationen:
  • Produktseite beim Pendragon Verlag
  • Erwerbsmöglichkeiten


Wertung: 12/15 dpt


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