Bertram Reinecke – Geschlossene Vorgänge. Über einige biografische Artefakte etc. (Buch)


Erzählungen: Anspruchsvolles Prosadebüt eines Lyrikers.

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“Geschlossene Vorgänge” von Bertram Reinecke, erschienen bei Engeler. Foto: privat.

Bertram Reinecke legt mit „Geschlossene Vorgänge. Über einige biografische Artefakte etc.“ sein Prosadebüt vor. Das schmale Bändchen mit dem außergewöhnlichen Titel umfasst drei Erzählungen und ein Nachwort auf insgesamt kaum mehr als 100 Seiten, doch gewichtig ist sein Inhalt: Dass der Autor bereits arrivierter Lyriker ist, lässt sich sehr leicht am Erzählstil erkennen. Wortgewandt, ausdrucksstark und mit teilweise rätselhaftem Vokabular kommen die einzelnen Geschichten daher – und auch das „Nachwort“ lässt sich vielmehr als vierte Erzählung verstehen und spielt mit den Erwartungen der Leser*innen.

Bertram Reinecke lebt in Leipzig, veröffentlichte zwischen 2000 und 2014 fünf Gedichtbände („An langen Brotleinen“, „Engel oder Pixel“ u.a.) und wurde vielfach für sein Schreiben ausgezeichnet. Zuletzt 2020 mit einem Stipendium der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen, während dem auch einige der Geschichten dieses Erzählbandes entstanden sind. Er ist Inhaber des Verlags „Reinecke & Voß“.

„Geschlossene Vorgänge. Über einige biografische Artefakte etc.“ ist der rätselhafteste Buchtitel, der mir jemals begegnet ist. Und ist insofern prima gewählt, da nur diejenigen das Buch zur näheren Ansicht in die Hand nehmen werden, die Lust auf Rätsel haben. „Geschlossene Vorgänge“ klingt dabei nach „geschlossener Akte“ unlösbarer Fall. Und „biografische Artefakte“? Das mehrdeutige „Artefakt“ könnte im Sinne einer Störung verstanden werden – „kleine Störfälle im Leben(slauf) eines Menschen“ wäre somit eine Lesart des Titels und würde recht gut zu den Erzählungen passen. Wobei das anschließende „etc.“ nicht einmal ein Ausschreiben wert zu sein scheint und darauf verweist, dass auch alles andere damit gemeint sein könnte …

Worum geht es in den Geschichten?
Die erste Erzählung „Die Anklage des Daidalos“ besteht aus zwei Teilen und beschäftigt sich mit dem Mythos vom Flug des Daidalos und dessen Sohn Ikarus.1 Wir lesen hier in beiden Teilen eine Art Rede und Gegenrede: Ein Beobachter des Flugs behauptet, dass Daidalos Schuld am Sturz des Sohnes hatte. Der zweite Teil besteht aus einer kursivierten Erzählstimme, die das Gesagte widerlegen möchte. Er oder sie wendet sich an ein Publikum und schließt die Ausführungen wie folgt:

So also nun belehrt, geht und zeugt hinfort diese Wahrheit, die euch durch mich nun besser entdeckt und die, wie gesagt, zugleich das Schöne, das Gute und die Eine ist.„Die Anklage des Daidalos“, S. 43.

Die zweite Erzählung heißt „Mein lieber Feldmann“ und ist ein Brief an ebenjenen, geschrieben laut Datumsangabe des Verfassers Gottfried im Jahr 1817. Der Briefschreiber scheint Lehrer zu sein und berichtet von einem entdeckten Manuskriptfragment, von dem er annimmt, es stamme vielleicht von der antiken Dichterin Sappho. Einige Bruchstücke schickt er gleich mit, sie liegen dem Brief bei.
„Die Hüter der Steine“ ist neben dem „Nachwort“ die zugänglichste und auch umfangreichste Geschichte: Wir befinden uns auf der Halbinsel Mönchgut in Norddeutschland und für den Ich-Erzähler beginnt nach folgender Frage seiner Geliebten, Silvie, die eigentlich A. heißt, eine große Suche: „Kennst du eigentlich die Geschichte vom Urvater der Steine?“ Jahrzehntelang recherchiert der Einzelgänger daraufhin, um herauszufinden, was sich hinter dem Mythos der Hüter der Steine verbirgt und beobachtet jedes Treiben am Strand – bei Tag und Nacht.

Mir fiel auf, dass meine Strategie, die Einheimischen ertappen zu wollen, […] wenig erfolgsversprechend war. Sie waren mir überlegen: Sie kannten sich aus, sie waren viele. Als Fremder außerhalb der Saison war ich zudem besonders auffällig. Ich war allein und konnte mir allenfalls gutschreiben, dass noch niemand begriffen hatte, dass ich ihnen auf den Fersen war. Aber selbst da war ich nicht ganz sicher.„Die Hüter der Steine“, S.85

Im „Nachwort“ erzählt ein weiteres Ich von der eigenen Nachwende-Kindheit auf einer norddeutschen Insel und der späteren beruflichen Tätigkeit als Aktenvernichter. Skurrile Fundstücke wanderten damals heimlich in seinen Besitz. Das „Nachwort“ ist kursiv geschrieben und lässt die Vermutung zu, dass „Die Hüter der Steine“ ein solches Fundstück war und jetzt vom „Nachwort“-Sprecher veröffentlicht worden ist.

Gibt es weitere Verbindungen zwischen den einzelnen Texten?
Ich denke, es liegt in der Natur des lesenden Menschen, nach einer Verbindung zwischen einzelnen Geschichten eines Erzählbandes zu suchen – in handelnden Personen, erzählten Ereignissen oder Schauplätzen der Handlung. Ein offensichtlicher roter Faden ist hier allerdings nicht zu finden, was nicht als Qualitätskriterium verstanden werden darf. Wer mit Bertram Reineckes Wortkunst vertraut ist, wird dies ohnehin nicht erwartet haben – zu subtil ist dafür sein Spiel mit der Sprache und mit denjenigen, die sich in seine Literatur vertiefen sollen. Die Suche nach einem verbindenden Element muss größer gedacht werden: In allen Erzählungen geht es mehr oder weniger um die Suche nach der einen Wahrheit: Was genau brachte Ikarus zu Fall, verschweigt sein Vater die eigene Schuld? Handelt es sich bei dem gefundenen Manuskript tatsächlich um aufgetauchte Verse der Dichterin Sappho? Wer genau sind die Hüter der Steine und welche Aufgabe verfolgen sie? Damit einhergehend schwebt der große Zweifel über der Wahrheitssuche, denn eine Auflösung scheint unmöglich zu sein und wird innerhalb der Texte auch nicht gegeben. Vielmehr ist es die Wahrheitssuche an sich, die die Seiten des Büchleins als wiederkehrendes Motiv füllt und oft in philosophische Weiten ausschweift. Für manche Rezipient*innen vielleicht recht unbefriedigend, für andere wiederum reizvoll. Anspruchsvolle Leser*innen werden jedenfalls nicht enttäuscht sein!

  • Autor: Bertram Reinecke
  • Titel: Geschlossene Vorgänge. Über einige biografische Artefakte etc.
  • Band der Reihe: Band 9 der Neuen Sammlung
  • Verlag: Engeler Verlage
  • Erschienen: Januar 2022
  • Einband: Softcover
  • Seiten: 116
  • ISBN: 978-3-907369-04-3
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite
    Verlag von Bertram Reinecke: Reinecke & Voß, “Fachverlag für Horizonterweiterung”


Wertung: 10/15 dpt

 


  1. In der Überlieferung stürzt der Sohn ins Meer, weil das Wachs an den Federn des Flugapparats schmolz. Trotz Warnung des Vaters flog der Sohn zu nah an die Sonne. []
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