Über das Schicksal der griechischen Sepharden aus Thessaloniki
Über das tragische und bewegende Schicksal von Millionen Menschen während des Zweiten Weltkrieges im Allgemeinen und dem Völkermord an den Juden im Besonderen sind unzählige Werke geschrieben worden. Sachbücher wie Romane, doch wer meint, er oder sie habe schon alles über dieses dunkelste Kapitel deutscher Geschichte gelesen, wird von Elena Chouzouri höchstwahrscheinlich eines Besseren belehrt. Es geht in ihrem Roman „Onkel Avraam bleibt für immer hier“ um die griechischen Juden sephardischer Herkunft in Thessaloniki und ihr dramatisches Schicksal vor und vor allem während des Holocaust. Nur wenige der 50.000 Juden überlebten.
Erzählt wird die Geschichte von einer unbekannten Person, die die Leser indirekt einbindet mit Sätzen wie: „Sagen wir, es ist Mittwochnachmittag.“ Es ist ein ungewohnter Schreibstil, der durch teils endlos erscheinende Schachtelsätze ebenso anspruchsvoll wie anstrengend daherkommt oder im hohen Maße literarisch; je nach Sichtweise.
Alisa ist 27 Jahre jung, Historikerin und in Tel Aviv aufgewachsen. Ihre Großmutter Luna, auf die ihre Mutter Nora selten gut zu sprechen war, verstarb vor zwei Tagen und so entdeckt Alisa im Nachlass drei alte Fotos die Luna zeigen. Auf einem der Fotos ist sie mit einem deutlich älteren Mann zu sehen, die Beschriftung lautet: „Trauung. 22. Juni 1944. In den Bergen.“ Alisa ist schockiert, was ist hier los? Wer ist der ihr unbekannte Mann, von welchen Bergen ist die Rede und vor allem, warum tragen alle Militärkleidung? Für ihre Doktorarbeit über den Arbeiterführer Avraam Benaroya will Alisa in Thessaloniki vor Ort recherchieren, doch vielmehr interessiert sie sich plötzlich für ihre eigene Familiengeschichte.
Bewegende Familien- und Stadtgeschichte mit Seitenblick auf Arbeiterführer Avraam Benaroya
„Onkel Avraam bleibt für immer hier“ ist ein in mehreren Hinsichten interessantes Buch. Leben und Werk des titelgebenden Arbeiterführers, der unter anderem 1918 die Kommunistische Partei Griechenlands gründete, wird angemessen umfangreich vorgestellt, dient vor allem aber für ausführliche Einblicke in die Geschichte der Stadt Thessaloniki respektive Saloniki in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Großbrand im Jahr 1917, dem zahlreiche Stadtviertel zum Opfer fallen, spielt eine wichtige Rolle. Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre strömen immer mehr Einwanderer aus der Türkei in die Stadt. Bitterarm, aber streng religiös, sind sie die natürlichen Feinde der oftmals ebenso armen Juden vor Ort. Die These „Dein Tod ist mein Leben“ wird für lange Zeit gelten. Es ist wie immer: Wer schwach ist, prügelt auf jene ein, die noch schwächer sind. In der Nacht vom 29. auf den 30. Juni 1931 eskaliert die Lage. Einwanderer brennen mit Unterstützung der einheimischen Faschisten den Stadtteil Campbell nieder, dessen überwiegend aus Holzbarracken bestehende Häuser von notleidenden Juden bewohnt waren. Schließlich kommt es am 9. April 1941 zum Einmarsch der deutschen Wehrmacht, ab Juli 1942 beginnt die systematische Verfolgung der Thessalonischen Juden sowie deren spätere Vernichtung im Konzentrationslager Auschwitz.
Wer die Romane von Mechtild Borrmann mag, ist hier (ziemlich sicher) richtig
Ausgerechnet am 30. Juni 1931 lernt die siebenjährige Luna den dreizehnjährigen Pavlos kennen, der in der Tuchimporthandlung von Lunas Vater bereits ein wichtiger Mitarbeiter ist. Später wird es zur Verlobung der beiden kommen, doch der Krieg ändert alles. Erst wird Pavlos einberufen, dann marschieren die Deutschen ein und plötzlich lebt Lunas Familie in einem Ghetto unter strenger Aufsicht, während sich Pavlos mit anderen Partisanen in das Paiko-Gebirge zurückgezogen hat. Es kommt zu schicksalhaften Entwicklungen, die hier nicht weiter vorweggenommen werden sollen. Die Griechische Volksbefreiungsarmee ELAS und die Widerstandsbewegung EAM werden erwähnt, ansonsten bleibt der Fokus nah an Luna und ihrem familiären Umfeld.
Abgesehen von den bereits erwähnten, mitunter etwas sperrig anmutenden Schachtelsätzen, die literarisch betrachtet große Schreibkunst aufbieten, ist die Geschichte recht flüssig zu lesen, wenngleich dies Konzentration erfordert. „Onkel Avraam bleibt für immer hier“ ist eine vielseitige und informative Geschichtsstunde – über den „Historischen Hintergrund“ gibt es zudem eine lesenswerte Nachbemerkung – über ein Kriegskapitel, welches außerhalb Griechenlands kaum bekannt ist. Wer die ähnlich konzipierten Romane von Mechtild Borrmann mag, sollte unbedingt einen Versuch wagen.
- Autorin: Elena Chouzouri
- Titel: Onkel Avraam bleibt für immer hier
- Verlag: Verlag der Griechenland Zeitung
- Umfang: 214 Seiten
- Einband: Hardcover
- Erschienen: April 2023
- ISBN: 978-3-99021-047-5
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Wertung: 13/15 dpt